Marlis Dürkop-Leptihn

Marlis Dürkop-Leptihn, Präsidentin der HU Berlin 1992, Foto Waltraud Harre
Marlis Dürkop-Leptihn, Präsidentin der HU Berlin 1992 Foto: Waltraud Harre

Ein persönlicher Erfahrungs- und Arbeitsbericht von Marlis Dürkop-Leptihn, Hamburg 2020 –  angeregt durch ein berufs-biografisches Interview durch Cillie Rentmeister.

 

1. Weibliche Erfolgsgeschichten (1968 – 1989)
2. Du heiratest ja sowieso
3. Der Zweite Bildungsweg und die Frauenquote
4. 1968 – Das Ende der bleiernen Zeit
5. Aus der Frauenbewegung in die Universität
6. Die Töchter der Alma Mater organisieren sich
7. Suche nach angemessenen Theorien und Methoden
8. Zum Geschlechterverhältnis im Recht
9. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort

 

1. Weibliche Erfolgsgeschichten (1968 – 1989)

Die älteste noch bestehende Universität im deutschen Sprachraum wurde 1365 von Herzog Rudolf IV. in Wien gegründet, Heidelberg folgte 1386. Lehre und Studium waren dem männlich. en Geschlecht vorbehalten. Scheinheilig wurde mehr als 500 Jahre lang dem weiblichen Geschlecht fiktiv in Gestalt einer angeblich nährenden und schützenden Alma Mater gehuldigt. Erst gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelang es wenigen Ausnahme-Frauen unter großen Schwierigkeiten an deutschsprachigen Universitäten zu studieren, promovieren oder gar zu habilitieren.

Glücklicherweise haben unsere Ahnfrauen der deutschen Frauenbewegung seit 1918 entscheidende Rahmenbedingungen erkämpft: den freien Zugang zur Bildung, zu den Universitäten und das Frauenwahlrecht. 1949 hat Elisabeth Selbert mit einer modernen Frauen-Mobilisierungskampagne gegen massiven Widerstand die Gleichberechtigung von Frauen und Männern im Art.3 unseres Grundgesetzes durchgesetzt.

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges waren Frauen weitaus in der Überzahl, Männer waren im Krieg gefallen oder noch in der Gefangenschaft. Die Frauen übernahmen Aufräumarbeiten und lebenserhaltende Subsistenzarbeit. Im „Nachkriegsfeminismus“ mussten die traditionellen Strukturen neu geordnet werden. Dennoch verzichteten Frauen in der Mehrheit auf eine Forderung zur Gleichstellung mit Männern im Arbeitsbereich als Überlebende und ehemalige Kriegsgefangene zurückkehrten. Ab 1947 wurden Frauen wieder in ihre alten Rollen zurückgedrängt.[1]

Als Symbol für den geringen Frauenanteil in der höheren Bildung in den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts galt das Bild von der katholischen Arbeitertochter vom Lande – ohne dass allerdings nach Ursachen der offensichtlichen Benachteiligung gefragt wurde. Ich konnte mir damals nicht vorstellen wie wohl mein Frauenleben aussehen könnte. Sekretärin, wie meine Mutter, wollte ich nicht werden. Heiraten, meinen Mann fragen müssen ob ich berufstätig sein, von meinen selbst verdienten Geld ein Kleid kaufen darf? Lesen wollte ich, nachdenken, irgendwie die Welt verändern – aber in der bleiernen Nachkriegszeit waren solche Lebensmodelle für Frauen nicht vorgesehen.

Und dann kam doch der Wandel mit der 68er Studentinnen/Studentenbewegung. Es entstand eine neue Frauenbewegung. Von unseren Vorgängerinnen der Ersten Frauenbewegung wussten wir zunächst gar nichts. Ich bin in vieler Hinsicht unendlich dankbar, dass ich Teil dieser Bewegung sein konnte. Beruflich kann ich auf ein Leben zurückblicken, das ich mir als junges Mädchen nicht im Traum hätte vorstellen können: Nach meinem Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg konnte ich studieren, promovieren, Professorin und Rektorin der heutigen Alice-Salomon-Fachhochschule werden, als Berliner Abgeordnete der Grünen im Abgeordnetenhaus Berlin tätig sein, als Präsidentin die Humboldt- Universität nach der deutschen Wiedervereinigung leiten, danach als Hamburger Staatsrätin für Wissenschaft und Gleichstellung und später im Ruhestand als stellvertretende Vorsitzende des Wiener Universitätsrates arbeiten.

Die Erste deutsche Sommeruniversität für Frauen im Jahre 1976 kann als Meilenstein weiblicher Eroberung der fünfhundert Jahre alten Männerbastion „Universität“ gesehen werden. In den Jahren 1968 bis 1989 gelang uns Frauen der Schritt aus einer eher subversiven wissenschaftlichen Parallelgesellschaft hin auch zur formellen Anerkennung unserer strukturellen Benachteiligung durch Wissenschaft und Politik in Bund und Ländern. Wer die übliche Geschwindigkeit der Umsetzung deutscher Hochschulreformen aus eigener Erfahrung kennt, kann sich nur verwundert die Augen reiben wie schnell der „Abwesenheit des Weiblichen“ an unseren Hochschulen ein Ende gemacht wurde.

Im Jahr 2018 habe ich ziemlich fassungslos zugesehen, wie in der medialen Öffentlichkeit ausgiebig das fünfzigste Jubiläumsjahr der 68er Bewegung je nach politischer Auffassung gefeiert oder als unbedeutend abgetan wurde und dabei die Frauenbewegung als beteiligte Akteurin so gut wie gar nicht erwähnt wurde. Nur Christina von Hodenberg hat mit ihrer Untersuchung „Das Andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte“ (Beck, München 2018) einen der Frauenbewegung gebührenden Platz in der Presse eingeräumt bekommen.[2]

So müssen wir Frauenbewegte uns eben wieder selber loben, um unseren gesellschaftlichen Beitrag seit 1968 zu würdigen. Ute Gerhard, die kluge Geschlechterforscherin der ersten Stunde, äußert sich in ihrem Rückblick zurückhaltender : Ihrer Meinung nach wäre unangemessen, die vergangenen Jahrzehnte frauenpolitisch nur als Fortschrittsgeschichte zu erzählen.[3] Weibliche Bescheidenheit ehrt uns, doch Erfolge dürfen Erfolge genannt werden.

Als beteiligte Zeitzeugin will ich am Beispiel meines eigenen Lebenslaufes an die Teil-Eroberung der bundesdeutschen Hochschulen und Universitäten durch uns Frauenbewegte seit 1968 erinnern. Ein bisschen stolz stellt sich mir nach meinem Rückblick die Frage, wie wir nach einem halben Jahrtausend weiblicher universitärer Ausgrenzung so erfolgreich sein konnten.

Von unseren männlichen Mitstreitern in der 68-Bewegung haben wir uns grundsätzlich unterschieden:

Die Frauenbewegung war – wie die übrige Studierendenbewegung – von Anfang an international orientiert. Angloamerikanische, französische und italienische Entwicklungen wurden selbstverständlich zur Kenntnis genommen. Doch wir haben uns insbesondere in unseren lokalen und institutionellen Zusammenhängen gesucht und gefunden, haben dort gewirkt und verändert. Wir waren irgendwie überall.

Wir haben den Spieß umgedreht: Männer wurden nicht zugelassen. Nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 hatten weitsichtige Herren zum Schutz der männlichen Herrschaftsverhältnisse ein Vereins-und Versammlungsverbot für Frauen erlassen. Diese Form der Diskriminierung erlaubt unser Grundgesetz nicht mehr. Und so haben wir uns an allen möglichen Orten versammelt: zu Hause, im Café, in Buchhandlungen, in Fachbereichs-Gruppen, in Frauenzentren, in wissenschaftlichen Fachgesellschaften. Im Gegensatz zur alten Frauenbewegung gründete die neue zunächst keine Vereine oder Organisationen. Sie bestand vielmehr aus einem losen Netzwerk von Gruppen, Projekten, die für bestimmte Themen und Anliegen Öffentlichkeit herstellten.[4]

Und wir haben die Konfrontation gesucht: Am eindrucksvollsten haben sich Frauen seit 1969 im öffentlichen Kampf um das Abtreibungsverbot zusammengeschlossen. Bis heute gibt es immer wieder parteiübergreifende Initiativen von Frauen – etwa wenn der Frauenanteil in Parteien oder Gremien erhöht werden soll. Männer tun sich mit ähnlichen Aktionen offensichtlich schwer und verlassen sich anscheinend lieber auf ihre verlässlichen alten Netzwerke.

Selbstverständlich gab es Widerstand und Protest. Die Hanns-Seidel-Stiftung veranstaltete 1989 eine Tagung mit dem Schwerpunkt „Die Folgen von Revolte und Reform 1968-1974“.[5] Die Tagungsbeiträge vermitteln nachträglich ein anschauliches Bild der damals an Universitäten und in der Wissenschaftspolitik vorherrschenden konservativen Auffassungen. In einigen Beiträgen wird auf „Frauenforschung“ (immer in Anführungszeichen gesetzt) eingegangen und deren langfristige Gefährlichkeit für das geistige Klima an Hochschulen beschworen.[6] Jene weltferne Lehre von der Chancengleichheit habe sich durchgesetzt, „soziale Gerechtigkeit“ sei an die Stelle von Begabung, Fleiß und Geist getreten.[7]

Selbst der Frauenbewegung wohlgesonnene Männer haben uns und unsere Aktivitäten sehr lange nicht ernst genommen. Viele erlaubten sich herablassende Ignoranz. Sie konnten es sich leisten, hatten sie doch bis 1977 die zivilrechtlich garantierte Verfügungsgewalt über unsere individuelle Lebensgestaltung, über unsere Körper, Kinder, Berufstätigkeit und unser Geld. Männer waren sich ihrer gesellschaftlichen Machtposition sicher und haben uns das fühlen lassen. Wie z.B. ein prominenter Wissenschaftspolitiker 1986 in einem wichtigen bundesdeutschen Gremium: Er kommentierte meine erste Wortmeldung als neue Rektorin der heutigen Alice-Salomon-Fachhochschule: „Frau Kollegin, Sie wollen sicher einen Beitrag zur Frauenfrage leisten…“, um dann später beim Abendessen mit dem Fuß unter dem Tisch meine nähere Bekanntschaft zu suchen.

Wir waren mit Sexismus als alltäglicher Erfahrung konfrontiert. Allerdings gab es diesen Begriff damals noch nicht. Trotz allgegenwärtiger Sexismus-Erfahrung hat es heute für mich den Anschein, als hätten wir gerade im Schatten männlicher Unterschätzung unsere Ziele ungestörter durchsetzen können. Wir waren – auch durch die lockere Organisationsform bedingt – nicht berechenbar und politisch schwer zu vereinnahmen.[8]

Das deutsche Wort Sexismus ist ein Anglizismus, der als Übersetzung des englischen Wortes sexism entstand. Dieser Begriff wurde von der Professorin Pauline M. Leet erstmals im Rahmen eines Vortrags am Franklin & Marshall College in Lancaster/Pennsylvania, USA im Jahre 1965 gebraucht. Lancaster wurde 1967 für mich nach dem ersten Besuch bei meiner dortigen Gastfamilie im Rahmen eines Service-to-Mankind Programmes zum amerikanischer Heimatort. (https://de.wikipedia.org/Sexismus)

Eine entscheidende Rolle für die juristische Absicherung positiver Frauenförderung in der Bundesrepublik kommt dem ehemaligen Vorsitzenden des Bundesverfassungsgerichtes, Ernst Benda (CDU), zu. Für die Freie und Hansestadt Hamburg erstellte er 1986 ein Gutachten über die Zulässigkeit gezielter Frauenförderung im öffentlichen Dienst. Er prägte den Begriff der „strukturellen Benachteiligung“ im Lebenszusammenhang von Frauen, der frauenfördernde Maßnahmen zur Abwendung systematischer Benachteiligung gesetzlich rechtfertigt.[9]Festzuhalten ist jedoch: Wir brauchten bei unserem Marsch in (nicht durch) die Männerbastion Hochschule aufgeschlossene Männer, die uns in Gremien, Berufungskommissionen und in der Politik unterstützten. Ohne diese Kollegen wären uns die meisten Hochschultüren noch länger verschlossen geblieben.

Im November 1985 wurde im Bundestag durch das Dritte Gesetz zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes (HRG) erstmals die Verpflichtung von Hochschulen festgeschrieben, Maßnahmen zur Förderung der Chancengleichheit von Frauen vorzunehmen. Geregelt wurde darin die Einsetzung von Frauenbeauftragten an Hochschulen.[10] Weitergehende Maßnahmen, z.B. Quotierung bei Stellenbesetzungen und Beförderungen, wurden immer wieder unter Verweis auf Art. 3, Abs. 2 GG in Zweifel gezogen.[11]

Mit einem Beschluss hat sich im Dezember 1986 der Deutsche Bundestag grundsätzlich für besondere Förderungsmaßnahmen ausgesprochen, mit denen die Zahl weiblicher Nachwuchskräfte für Hochschulen und Wissenschaft erhöht werden könne. Der geringe Anteil von Frauen in herausgehobenen Positionen und Dauerstellen widerspreche dem Gebot der Gleichberechtigung nach Art 3.Abs.2 des Grundgesetzes und der erwiesenen gleichen intellektuellen Leistungsfähigkeit von Männern und Frauen in der Wissenschaft.[12]

Auf dem Gebiet Wissenschaft und Forschung darf der 9. November 1989 (zufällig auch der Tag des Mauerfalls) als Datum offizieller politischer Anerkennung der bis dato subversiven weiblichen wissenschaftlichen Parallelgesellschaft gelten. An diesem Tag wandten sich die Vorsitzenden der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung, Jürgen Möllemann und Anke Brunn, mit einem Schreiben an die Regierungschefs des Bundes und der Länder, in dem diese zur Förderung von Frauen im Bereich der Wissenschaft aufgefordert werden.[13]

 

2. Du heiratest ja sowieso

Schon unmittelbar nach meiner eiligen Ankunft in dieser Welt war klar, wer hier das Sagen hat: „Eigentlich sollte es ein Junge werden, aber eine Marlis ist auch willkommen“ telegrafierte mein Vater im August 1943 von der Front an meine Mutter. Nach Kriegsende bin ich in Melverode, einem dörflichen Vorort von Braunschweig, aufgewachsen. Ich mochte mein Dorf: Im Sommer die weiten Felder der Umgebung mit Kornblumen und Klatschmohn, im Herbst Kartoffel-und Rübenernte beim Bauern, im Winter Schlittschuhlaufen auf den überfluteten Oker-Wiesen und die kleine spätromanische Kirche im Dorfkern.

Meine Eltern waren beide als mittlere Angestellte berufstätig. Meine Mutter hatte die Mittlere Reife. Sie machte in der öffentlichen Verwaltung Karriere bis zur Sekretärin des Braunschweiger Polizeipräsidenten. Daneben erledigte sie alle Haushaltspflichten. Mein Vater besuchte eine Bürgerschule.[14] Er war in der Registratur der Hypothekenabteilung der Braunschweigischen Staatsbank beschäftigt. Beide waren SPD-Mitglieder. Über Politik wurde in der Familie nicht gesprochen. Nach dem Tod meines Vaters trat meine Mutter aus der Partei aus. Das kommunale Engagement meines Vaters prägte unseren Familienalltag: Er war langjähriger Vorsitzender des Fußballvereins SV Melverode, des Kulturrings zur jährlichen Ausgestaltung unseres dörflichen Heimatfestes und Mitglied des Gesangvereins. Weitere kulturelle Anregungen ergaben sich für mich aus der Mitgliedschaft unserer Familie im Bertelsmann-Lesering. Die regelmäßigen Bücherbestellungen erledigte ich schon früh selbständig – nicht immer zur Zufriedenheit meiner Eltern. Wir hatten ein Abonnement für das braunschweigische Staatstheater (die Oper „Zar und Zimmermann“ habe ich wohl im Laufe meiner Kindheit und Jugend dreimal besucht). Meine Schularbeiten erledigte ich als Schlüsselkind oft begleitet vom „Tierfreund“ im Radio. Samstags hörte ich eine Weile gern den „Abend für junge Hörer“ mit Gerlach Fiedler.

Aus der evangelischen Kirche waren meine Eltern und fast alle Verwandten nach dem Krieg ausgetreten (mein Vater begründete diesen Schritt damit, dass der dörfliche Pastor im Krieg immer größere Butterportionen als andere erhalten habe). Ich nahm trotzdem am Konfirmandenunterricht unserer Dorfkirche teil und wünschte gegen den Willen meines Vaters die Taufe vor der Konfirmation. Mein Onkel Franz – Maurer von Beruf – und seine Frau Hilde stellten sich schließlich als Taufpaten zur Verfügung. Meine Großeltern schenkten mir eine braune Tischdecke für die Aussteuer, mein Schulleiter der Volksschule ein Buch mit Zitaten berühmter Männer: „Nichts ist, das dich bewegt; du selber bist das Rad, das aus sich selbsten [sic] läuft und seine Ruhe hat“.[15]

Nach der kleinen dörflichen Volksschule besuchte ich die Mittelschule am Augustplatz in Braunschweig. Beide Schulen, ihre Lehrerinnen und Lehrer habe ich in guter Erinnerung. Frühere Nazi-Zugehörigkeiten – wenn sie denn bestanden haben – spielten keine Rolle. Als Schülerin einer Mädchenklasse lernte ich Nützliches für eine spätere Hausfrauentätigkeit: Ich kann Knöpfe mit Stiel annähen, eine Mehlschwitze herstellen und Bettlaken flicken.

In der zehnten Klasse wurde mein Vater (wie schon in der Volksschule) in die Schule gebeten, um ihm meinen weiteren Besuch des Gymnasiums zu empfehlen. Er lehnte dies vor allem mit zwei Argumenten ab: Ich würde sowieso heiraten, außerdem solle ich nicht vergessen, wo ich her ich käme. Ungeachtet dessen übten meine Eltern großen Leistungsdruck in Bezug auf sehr gute Noten auf mich aus. Alternativ vereinbarten sie für mich eine Berufsberatung beim Arbeitsamt. An Details der dortigen Begutachtung erinnere ich mich nicht mehr – jedenfalls wurde in mir die geborene Kontoristin entdeckt. Ich lehnte ab, machte mich selbst auf die Suche und begann nach der Mittleren Reife eine dreijährige Lehre als Reisebürokaufmann in einem Braunschweiger Reisebüro.

 

3. Der Zweite Bildungsweg und die Frauenquote

Während meiner Lehre blieb der intensive Wunsch zu studieren. Die Reisebranche war neu. Es gab weder Wintertourismus noch pauschale Flugreisen-Angebote. Von Oktober bis März war kaum Kundschaft zu bedienen. Ich las gelangweilt unter meinem Counter Jean–Paul Sartre. Angesichts familiärer Ablehnung eines Studiums suchte ich nach Alternativen. Beruflich kam ich hinaus in die weite Welt, liebäugelte mit dem Gedanken, Stewardess zu werden und belegte Abendkurse für Englisch und Spanisch. Mögliche bildungspolitische Offensiven der 50/60 Jahre erreichten mich nicht. Ich wusste nichts von einem Zweiten Bildungsweg, nichts vom Abendgymnasium oder dem Puddingabitur.

Nur etwa 1 km vom Braunschweig-Kolleg entfernt habe ich meine frühe Kindheit verbracht. Meine Großeltern hatten sich direkt nach Kriegsende vier elegante, mit grünem Leder bezogene Stühle für ihr Wohnzimmer aus dem Nazibau am Zuckerbergsweg angeeignet. Dass sich darin seit 1959 das Braunschweig-Kolleg befand, blieb uns Anwohnern verborgen. Bis mir ein Freund nach seiner gescheiterten Bewerbung vom Kolleg erzählte.

Das 1949 gegründete Braunschweig –Kolleg befindet sich seit 1959 im Gebäude der früheren Akademie für deutsche Jugendführung. Die großzügige Anlage wurde in gewollt nationalsozialistischem Baustil mit elitärem Charakter auf Parkgelände um das Schloss Richmond errichtet. Die Stadt Braunschweig hatte dies den herzoglichen Welfen abgekauft. Die Einrichtung der Hitlerjugend war für die kommende Zweite Generation der Nationalsozialisten geplant. Als zukünftige Bann- und Jugendbannführer wurden nach strikten NS-Kriterien erwählte junge Männer ausgebildet. Für Frauen war eine Reichsführerinnenschule des BDM zwischen Braunschweig und Wolfenbüttel vorgesehen, die aber nie über die Grundmauern hinaus kam (vgl. die sehr ausführliche Darstellung durch den späteren Leiter des Kollegs, Jürgen Schultz, „Die Akademie für Jugendführung der Hitlerjugend in Braunschweig“, Braunschweiger Werkstücke, Reihe A, Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek, Bd.15, Braunschweig,1978).

Die Eröffnung der Akademie fand 1939 am 20.April (Hitlers Geburtstag) statt. Das weitläufige Gelände hatte die Stadt Braunschweig bereitgestellt. Meine Heimatstadt hat sich schon früh und intensiv dem Nationalsozialismus geöffnet (vgl. Hans-Ulrich Ludewig, Nationalsozialismus als Protestbewegung. Machteroberung und Machtstabilisierung in Braunschweig, in: „Schicht-Protest-Revolution in Braunschweig 1292 bis 1947/48“, Hrsg. Birgit Pollmann, Braunschweiger Werkstücke Reihe A, Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek, Bd.89, Braunschweig 1995, S.175f.). Unter anderem hat sie mit der Vergabe der deutschen Staatsbürgerschaft an Adolf Hitler im Jahre 1932 quasi in letzter Minute die Voraussetzung für Hitlers Kanzlerschaft geschaffen, nachdem dieser sieben Jahre lang sich als vorbestrafter Staatenloser vergeblich darum bemüht hatte, aber an der Ablehnung diverser Demokraten gescheitert war (siehe Artikel in Wikipedia).

Im Frühjahr 1964 bestand ich die dreitägige Aufnahmeprüfung zum Braunschweig-Kolleg. Es begannen zwei schwierige Jahre, die mir viel abverlangt haben. Ich war ohne eigenes Einkommen, emotionale elterliche Unterstützung blieb aus. Mein Vater hat mich niemals im dortigen Internat besucht. Er hätte auf dem Weg von seiner Arbeit an der Bushaltestelle vorm Kolleg aussteigen können. In den Schulferien verdiente ich mit Gelegenheitsjobs Taschengeld. Meine Mutter versorgte mich wortlos mit Lebensmitteln.

(Inzwischen wurden für die Kollegiaten und Kollegiatinnen Verbesserungen erreicht: Statt nur zwei dauern die Kurse zum Erreichen der Hochschulreife heute drei Jahre. Auf eine einjährige Einführungs- folgt eine zweijährige Qualifikationsphase. Die Kollegiaten können elternunabhängige Unterstützung nach dem Bafög beantragen. Eine frauenfreundliche Regelung wurde eingeführt, die anstelle der dreijährigen Berufserfahrung die Führung eines Familienhaushaltes mit mindestens 3 Personen als Zugangsvoraussetzung anerkennt.)[16]

 

Der Geist der NS-Vergangenheit war in meiner Studienzeit nicht ganz aus den pompösen Hallen und Marmor-Fluren gewichen. Wir neuen Kollegiaten und Kollegiatinnen des 14. Jahrgangs waren, gemäß der Zulassungsbedingungen, mindestens 21 Jahre alte Erwachsene mit Erfahrung aus sehr unterschiedlichen Berufen, z.B. Kapitän, Frisörin, Elektroschweißer, Chemielaborant, Reisebürokaufmann. Wir hatten den Willen zur Weiterbildung, wollten unser bisheriges Leben reicher machen, waren neugierig und erwartungsvoll. Konzepte der Erwachsenenpädagogik gab es nicht, bei unangepasstem Verhalten drohte manchmal die Eintragung ins Klassenbuch. Manche Kollegiaten waren der Auffassung, man wolle uns zuerst das Rückgrat brechen, um uns formbarer zu machen. Doch das waren Ausnahmen. Die Lehrer mühten sich freundlich und kompetent, uns den fünfjährigen Stoff der Gymnasien in zwei Jahren zu vermitteln. Mein Nachholbedarf an Bildung konnte nur ansatzweise aufgeholt werden, wie ich später im Studium feststellen musste. Doch ich war außerordentlich dankbar, dass mir auf diesem Wege ein Studium möglich war.

Die Regeln für den Umgang der Geschlechter untereinander waren streng. Männer oder Frauen durften sich nur bis 22 Uhr in Zimmern des anderen Geschlechtes aufhalten. Drei Männer wurden während meiner Studienzeit ohne offizielle Begründung aus dem Kolleg geworfen. Gerüchteweise hatten sie in ihren Zimmern Sex mit einer Außenstehenden gehabt. Der sog. Kuppeleiparagraph §180 StGB wurde in seiner weitreichenden Form mit dem 4. Strafrechtsformgesetz 1973 abgeschafft. Er gilt noch für die Förderung sexueller Handlungen mit Minderjährigen und Prostituierten.[17]

im Braunschweig-Kolleg 1965

Auffallend war die Geschlechterverteilung unter uns Teilnehmern. In unserem Jahrgang gab es fünf Frauen unter ca. 40 Kollegiaten.

Während eines Vortrags von Ingrid Schmidt-Harzbach auf der ersten Sommeruniversität für Frauen 1976 in Berlin ging mir ein Licht auf. Sie wies darauf hin, dass 1933 der Zugang von Frauen zum Studium massiv eingeschränkt wurde.[18] Das „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen vom 25.April 1933“ richtete sich insbesondere gegen jüdische Schüler und Studenten, führte aber auch zu Einschränkungen für „Nichtarier“ und insbesondere Frauen: Die Gesamtzahl der Neuanfänger des Jahrgangs 1934 wurde auf 15.000 Studierende festgeschrieben, davon nur 10% Frauen. In einem Erlass von 1934 wurde darüber hinaus von den betroffenen Männern und Frauen neben besonderen schulischen Leistungen verlangt, charakterlich und politisch zu überzeugen, bevor ihnen die Hochschulreife erteilt wurde. Nach Kriegsbeginn wurden Frauen wieder zum Studium ermutigt.[19]

Ich erinnerte mich während Ingrids Vortrag an unsere ebenfalls 10%ige Minderheit weiblicher Kollegiaten und plötzlich auch daran, dass mich während der Aufnahmeprüfung zum Kolleg ein junger Mann in einer Pause ansprach. Er teilte mir als Mitglied der Prüfungskommission vertraulich mit, meine Aufnahme könne scheitern. Es gebe Befürchtungen, männliche Kollegiaten könnten durch meine Attraktivität von der Arbeit abgelenkt werden. Ich wurde (und blieb lange Zeit)argwöhnisch: War etwa im Braunschweig –Kolleg die Nazi- Frauenstudierquote bei den Zulassungen zum Kolleg praktiziert worden?

Doch allmählich begriff ich: Es bedurfte gar keiner Frauenstudierquote. Sie lebte in den Köpfen unserer Väter und Mütter fort. Bundesdeutsche Bildungspolitik und ihre Bildungseinrichtungen setzten die NS-Tradition in Form der von mir am eigenen Leib erfahrenen familiären und gesellschaftlichen Hindernisse auf dem Weg zu Hochschulreife und Studium auch ohne gesetzliche Vorgaben fort. Bis zum Aufkommen der Frauenbewegung in den 70er Jahren blieb das von Nationalsozialisten praktizierte Niveau ungestört erhalten. 1974 war der Frauenanteil im Braunschweig-Kolleg von 10 bis 15% in den 50er Jahren bereits auf ein knappes Drittel gestiegen. 1980 erhöhte sich der Anteil auf mehr als 50% und in den 90er Jahren sogar auf rund 65%.[20]

Im Rahmen der Sommeruniversität für Frauen 1976 hat Jutta Poppinga auf politische Bestrebungen Anfang der 70er Jahre hingewiesen, die Zulassungsbedingungen zum Zweiten Bildungsweg zum Nachteil für Frauen zu verschärfen. Dass diese (nicht im Einzelnen umgesetzten) Vorstellungen im Zusammenhang mit dem gestiegenen Frauenanteil zu sehen sind, kann nur vermutet werden.[21]

 

4. 1968 – Das Ende der bleiernen Zeit

Zum Sommersemester 1966 begann ich mein Studium an der Freien Universität Berlin. Nach einem einsemestrigen Umweg über die Kunstgeschichte entschied ich mich für Soziologie als Hauptfach sowie Publizistik und Psychologie als Nebenfach.

Vor allem finanzielle Erwägungen haben die Wahl meines Studienortes bestimmt, von der damals schon aktiven Studentenbewegung hatte ich in Braunschweig nicht viel mitbekommen. Ich hatte in Erfahrung gebracht, dass Berlin – damals als einziges Bundesland- Stipendien auf Darlehensbasis nach dem Honnefer Modell finanzierte, auch dann wenn Eltern nicht zahlten, obwohl ihr Einkommen über der gesetzten Grenze lag. Während meines gesamten Studiums musste ich dann jedes Semester aufs Neue eine entsprechende, nur widerwillig mit Unterstützung meines (1,96 Meter großen) Freundes gewährte Erklärung meines Vaters vorlegen oder gegen ihn klagen. Außerdem hatte ich gehofft, in der Großstadt Berlin meine beruflichen Erfahrungen für Gelegenheitsjobs zu nutzen, um Stipendien-Lücken während der Semesterferien bis zum Hauptstudium zu überbrücken. Ich hatte Glück und bekam jedes Jahr eine regelmäßige Anstellung zur Vorbereitung der gerade etablierten Tourismus-Börse „Partner der Fortschritts“ (heute ITB) beim Ausstellungs-Dienst-Berlin.

Bei der Zimmersuche war ich nicht so erfolgreich. Ich stellte mich der Wohngemeinschaft eines Bekannten vor, die in einer Altbauwohnung in der Knesebeckstraße am Kurfürstendamm lebte. Die Bewohner entstammten offensichtlich anderen gesellschaftlichen Schichten als ich. Eine Studentin war adeliger Herkunft. Sie befragten mich ausführlich über meine Studienmotivation und lehnten mich ab. Ihre Begründung verwirrte mich: Sie fanden mich zu sehr an Theorie und zu wenig an gesellschaftlicher Praxis interessiert.

Es gelang mir stattdessen, eines der begehrten Zimmer im Studentendorf Schlachtensee zu beziehen. Seit 1953 hatte es wegen der großen Wohnungsnot im Nachkriegsberlin vom FU-ASTA Planungen für ein solches Wohn-Dorf gegeben. 1959 zogen die ersten Studentinnen und Studenten in 9,5qm große Zimmer in 6 Damen- und 12 Herrenhäuser ein. Ziel der amerikanischen Spendengeber war Erziehung zur Demokratie. Mauerbau und 68-er Studentenrevolte schrieben wichtige Kapitel der Dorfgeschichte. 1968 musste ich wegen der fünfsemestrigen Wohndauerbegrenzung ausziehen. Mir hatte die aus der Mode gekommene, in den Anfängen gepflegte Gemeinschaftsideologie eigentlich gut gefallen. Ich hatte Freundinnen und Freunde gefunden.[22]

Schließlich konnte ich doch in die WG in der Knesebeckstraße einziehen. Die Mit-Bewohner meines Bekannten hatten gewechselt. Ich erlebte die für damalige Zeiten typische WG-Kultur und traf viele Menschen aus mir bisher unbekannten Milieus. Heimkinder, genannt Trebegänger, brachten immer neue Freunde mit, die Essen und einen Schlafplatz brauchten. Ein bekannter Anarchist aus Paris klaute Hosen beim Top-Herrenausstatter Selbach, er schlief meist tagsüber in unserer Wohnung. Ein anderer junger Mann, der eine Haftstrafe wegen Mordes abgesessen hatte, hoffte auf unsere Unterstützung nach der Haftentlassung. Richtige Probleme bekamen wir durch eine später als RAF-Mitglied verurteilte, häufige Besucherin: die Freundin meiner Mitbewohnerin hatte deren Identität zur Anmietung einer RAF-Versteck-Wohnung missbraucht.

Unser Hauptmieter wollte uns loswerden und hatte dazu einen originellen Einfall: Er stellte 1971 der Regisseurin Helke Sander, seit ihrer Rede auf dem Delegiertenkongress des SDS im September 1968 prominente Vertreterin des Aktionsrates zur Befreiung der Frau, unsere komplette Wohnung für die Dauer der Dreharbeiten ihres Films „Eine Prämie für Irene“ zur Verfügung. Die Wohnung wurde für Filmarbeiten ab 5 Uhr früh belegt. Vom Chaos am Film-Set genervt ,zog ich mit den anderen aus. Als ich später den fertigen Film im Kino ansah, erkannte ich verschiedene Gegenstände aus meinem WG-Zimmer, unter anderem eine Unterhose.[23]

Im ersten Semester an der Freien Universität fühlte ich mich wie im Paradies. Ich genoss die Vorlesungen, hielt mich am liebsten in der Universitätsbibliothek auf und habe noch heute den etwas modrigen Papier-Geruch von Karteikarten in der Nase. Die politische universitäre Debatte bezog sich in meiner Wahrnehmung vor allem auf Kritik der Notstandsgesetze, die der Deutsche Bundestag 1965 beschlossen hatte. Von der zunehmenden Politisierung studentischer Organisationen bekam ich zunächst nichts mit.[24]

Die politische Situation eskalierte nach dem Tod von Benno Ohnesorg am 2.6.1967. Der Rektor der FU, Prof. Lieber, hielt es zu Beginn des Sommersemesters 1967 für unvermeidlich, ja notwendig, Lehrkörper und Studentenschaft zu informieren, da sich die Universität in einer Situation befinde, in der ihre Satzung, ihre Ordnung, ja möglicherweise ihre Autonomie aufs schwerste gefährdet seien. Er legte die Ausgaben für die Studentenschaft offen, äußerste sich zur Förderungswürdigkeit des SDS, rügte den ASTA, der Auflagen des Rektors missachte und verurteilte Anstiftungen zu pflichtwidrigem Verhalten. Er versicherte, es gäbe für die FU keinen Eskalationsplan des Senates von Berlin oder des Akademischen Senates der Universität. Solche Maßnahmen wurden von den Studenten befürchtet.[25]

Im Mai 68 beschloss der Akademische Senat der FU eine Erklärung, in der von einer schweren Bewährungsprobe der Universität die Rede war. Die Vorgänge der letzten Tage hätten auch den Nachsichtigsten gezeigt, dass antidemokratische Gruppen berechtigte Anliegen der Studenten missbrauchten, um mit Manipulation und Terror vorerst in dieser Universität die Anarchie zu institutionalisieren. Im FU Spiegel (Nr.65, Juni/Juli 1968), der offiziellen Studentenzeitschrift der FU, erklärte die ASTA-Vorsitzende Sigrid Fronius daraufhin, dass künftige Aktivitäten über Kampagnen gegen den Völkermord der Amerikaner in Vietnam, den Springerkonzern und die Notstandsgesetze hinaus in die Universität hinein gehen sollten. Studien- und Hochschulreform einerseits und Demokratisierung der Gesellschaft andererseits seien untrennbar miteinander verknüpft.

Bemerkenswert ist der Kontrast von Inhalten des FU-Spiegels und darin vorhandener Werbeanzeigen. Z.B. der Tanzschule für Sie am Kurfürstendamm (Nr.65); Herrenanzüge und Damenkostüme aus reiner Wolle ab Fabrik; Qualitätsbestecke aus Edelstahl mit Silberglanz – verbilligter Einkauf für Studenten; Neckermann – bevorzugtes Einkaufszentrum einer anspruchsvollen Weltbevölkerung (Nr.60); Pipe Tobacco, English Blend, Gratispröbchen; SOMA Glut – Der moderne Aktivator des Intelligenzpotentials/Chemielabor für Epidaurus (Nr.61)

Ich war mittendrin, nicht in den ersten Reihen, bemühte mich die Situation zu begreifen. Ein Kommilitone aus dem Dorf nahm mich im Sommersemester 1967 mit zu einem Vortrag von Herbert Marcuse im überfüllten Audi Max der FU. Marcuse diskutierte in mehreren Veranstaltungen mit der außerparlamentarischen Opposition Westberlins. Sein Thema war „Möglichkeiten und Chancen einer politischen Opposition in den Metropolen in Zusammenhang mit den Befreiungsbewegungen in Ländern der Dritten Welt“[26]. Dem tosenden Beifall am Ende der Veranstaltung konnte ich mich nicht anschließen. Der Studienkollege war befremdet und fragte, warum ich nicht geklatscht hätte. Ich gestand errötend, dass ich nichts verstanden hatte.In der Zeitung „Anrisse“ (3. Juli 1968) der Studenten der Technischen Universität äußerte sich Wolfgang Neef zur ASTA-Politik ebenfalls zu veralteten Strukturen der Universität, die offenbar nicht zentral sondern nur an der Basis der Institute beseitigt werden könnten. Er formulierte ein neues Verständnis von Inhalten: „ Der Wissenschaftsbegriff, der Wissenschaft als emanzipatorische Tätigkeit begreift, die es dem Menschen möglich macht, seine Freiheit von Zwängen durch Aufklärung der Zusammenhänge zu vergrößern, muß dem heute noch praktizierten positivistischen Wissenschaftsverständnis entgegengesetzt werden, das Ausbildung nur als Sammlung von Wissen und Wissenschaft nur als Mittel zur Optimierung der Organisation des Bestehenden auffaßt und damit letztlich dazu führt, daß die Absolventen der Hochschulen als besinnungsloses Werkzeug derer dienen, die gerade an der Macht sind.“

Das Studienangebot in der Soziologie empfand ich bald als völlig unbefriedigend. Zum Beispiel in der Familiensoziologie: Zwanzig Jahre nach seinem Ende kamen der Zweite Weltkrieg und seine Folgen in Vorlesungen oder Seminaren überhaupt nicht vor, jede Familie war in irgendeiner Form davon betroffen. In meiner Familie haben nicht ausgeheilte physische Kriegsverletzungen meines Vaters unser Leben massiv bestimmt. Gesprochen wurde darüber nie. Erst im Nachlass meiner Mutter fand ich 2007 Hinweise darauf, dass mein Vater sich seine Verwundung 1945 bei den Kämpfen um den Brückenkopf Remagen zugezogen hatte.

Oder in der Stadtsoziologie: Aktuell als bedeutend wurde die sozialökogische Chicago School gelehrt. Behandelt wurden lediglich männliche Vertreter (George Herbert Mead, William Burgess). Dass die Friedensnobelpreisträgerin Jane Addams bedeutende Mit- Begründerin mit einem stark empirischen und sozialpolitischen Ansatz gewesen war, habe ich erst viel später erfahren. (vgl. auch Silvia Staub-Bernasconi, Soziale Arbeit und Ökologie, 100 Jahre vor der ökologischen Wende, in: abstracts, Schule für Soziale Arbeit Zürich, Nr.28, 1987).

Aus Anlass des hundertjährigen Bestehens besuchte ich 1989 das von Addams gegründete Hull-House in Chicago, heute ein Museum und zugehörig zur University of Illinois at Chicago. Addams zu Ehren fand in Urbana-Champaign eine große Konferenz mit mehr als 5000 Frauen zum Thema „Women and Peace“ statt. Ich hielt einen Vortrag („Alice Salomon meeting Jane Addams“) über die Zusammenarbeit beider Frauen. Alice Salomon war seit 1915 wie Addams Mitglied der „International League for Peace and Freedom“ .

Ich habe mich in der Roten Zelle Soziologie (ROTZSOZ) am Institut für Soziologie engagiert und an der Erstellung eines neuen Studienplanes beteiligt. Dieser ging vom Bezug der Ausbildung zu einer sozialwissenschaftlichen Berufspraxis und der Verbindung von Lehre und Forschung in Studienprojekten aus (Studienplan für das Fach Soziologie, mschrftl. Manuskript, ohne Datum).

Das Institut für Publizistik hingegen stellte sich in seiner Forschungstätigkeit der aktuellen politischen Situation, die nach dem Tod von Benno Ohnesorg am 2.Juni 1967 Ausdruck in der Kampagne „Enteignet Springer“ fand. Unter Leitung der Professoren Eberhard und Bohrmann entstand eine Studie zur Lage des Berliner Zeitungsmarktes mit dem Titel „Pressekonformität und studentischer Protest“ im Auftrag des Berliner Abgeordnetenhauses. Ich durfte als studentische Hilfskraft daran mitarbeiten. Diese Untersuchung war vom Rektor Lieber im Juli 1967 im Akademischen Senat begrüßt worden (S. 10). Sie wurde erst 1971 im FU-Pressedienst Wissenschaft (Nr. 6/1971) veröffentlicht – wohl nicht nur wegen des Fehlens eines Druckkostenzuschusses, sondern vor allem weil darin massiver Einfluss der Springer-Presse auf die Öffentlichkeit dokumentiert wurde. In einem Begleitbrief vom 15.12.69 schrieb Prof. Dr. F. Eberhard an den Präsidenten des Berliner Abgeordnetenhauses: „Ferner wird die vielfach geäußerte Sorge, dass die Pressekonzentration zu einer einseitigen Beeinflussung der Öffentlichkeit führen kann, durch empirisches Material eindrucksvoll belegt. Nach der hier vorgelegten Untersuchung kann jene Sorge nicht mehr als unbegründet abgetan werden.“ Eine Antwort vom Auftraggeber Abgeordnetenhaus erfolgte nicht (S.6).Ich habe mich in der Roten Zelle Soziologie (ROTZSOZ) am Institut für Soziologie engagiert und an der Erstellung eines neuen Studienplanes beteiligt. Dieser ging vom Bezug der Ausbildung zu einer sozialwissenschaftlichen Berufspraxis und der Verbindung von Lehre und Forschung in Studienprojekten aus.[27]

Seit 1969 hatte sich in West-Berlin und im ganzen Bundesgebiet eine unübersehbare Anzahl von Frauengruppen gebildet. Sie spalteten sich: Die Autonomen hatten zum zentralen Focus die Lebenssituation von Frauen. Sich sozialistisch verstehende Gruppen mit politischer Zielorientierung begannen mit Lektürekursen zum Hauptwiderspruch von Arbeit und Kapital und betrachteten die Frauenfrage als Nebenwiderspruch.

Ich schloss mich dem Sozialistischen Frauenbund West-Berlin (SFB, 1970 -1980) an und besuchte Lektürekurse zur Politischen Ökonomie. Das Schulungsprogramm war verbindlich, sehr umfangreich und sollte in einem Jahr abgeschlossen sein. Es umfasste Klassiker wie Marx, Engels und Lenin, einige moderne Autoren zur aktuellen Situation des Kapitalismus in der BRD. An den Anfang der Kurse wurde ein frauenspezifischer Text gestellt, „…um der Motivation neuer Mitglieder entgegenzukommen.“ Gelesen wurden Auszüge aus Klara Zetkin „ Zur Geschichte der proletarischen Frauenbewegung Deutschlands“ und Kate Millett „Sexus und Herrschaft“.

Nach seinem Selbstverständnis begriff sich der SFB als Massenorganisation mit sozialistischer Zielsetzung: „Wir organisieren uns als Frauen separat, solange die spezifische Unterdrückung der Frauen die der Männer noch überschreitet und die daraus resultierenden Aufgaben von Gewerkschaften und politischen Parteien nicht in ausreichendem Maß übernommen werden können. Frauen wenden sich an uns aus Motiven wie: Versuch der Selbstbefreiung, Forderung nach Gleichberechtigung, Forderung nach besseren Sozialeinrichtungen, Interesse an spezifischer und speziell an Frauenarbeit, Bedürfnis nach Schulung. Hierin kommen die Konflikte zum Ausdruck, die aus ihrer besonderen Situation im Kapitalismus entstehen. An den berechtigten Interessen dieser Frauen muß unsere Organisation anknüpfen… Der Grad der Autonomie dieser gesonderten Frauenorganisation hängt von dem Stand der sozialistischen Bewegung ab. Als reine Frauenorganisation können wir keine Kaderorganisation sein. Das schließt selbstverständlich nicht aus, daß in unserer Massenorganisation besonders erfahrene Genossinnen (im Sinne von Kadern) tätig sein müssen…“[28].

Ich bin aus dem SFB Ende 1972 ausgetreten. Im letzten mir vorliegenden Protokoll der Plenumssitzung vom 4.10.72 wird u.a. mangelhafte Teilnahme der Genossinnen am Plenum beklagt und ein Referat von Jutta Menschik zur Erwerbstätigkeit der Frauen angekündigt. Ich konnte die dröge Atmosphäre der Schulungsveranstaltungen nicht mehr gut ertragen und vermisste die gerade in dieser Zeit so lebendige Offenheit unter Frauen. Privates wurde kaum angesprochen. Außer den marxistischen Klassikern interessierten mich Doris Lessing, Simone de Beauvoir, später Luce Irigaray ,Elfriede Jelinek und Hannah Arendt.

Seit 1969 forderten verschiedene Frauengruppen und die Humanistische Union die Abschaffung des Abtreibungsparagraphen. Die „Aktion 218“ fand ihren Höhepunkt in der STERN-Aktion „Ich habe abgetrieben“, an der zunächst viele prominente Frauen teilnahmen.[29] Bei nachfolgenden Unterschriftensammlungen im ganzen Bundesgebiet trugen sich viele Menschen in die Unterschriftenlisten ein oder erstatteten Selbstanzeige. Nach inneren Kontroversen hatte sich auch der SFB zur Teilnahme entschlossen. Ich arbeitete zu dieser Zeit an meiner Diplomarbeit im Fach Soziologie. Mein theoretischer Hintergrund war zaghaft marxistisch, der vermutete Klassencharakter des §218 stand im Mittelpunkt meiner eher rechtssoziologischen Arbeit („Ideologiekritische Untersuchung des Abtreibungsverbotes“ FU Berlin 1970).

Heute aus Datenschutzgründen undenkbar, war mir als Studentin auf Antrag Akteneinsicht in mehr als 300 Original-Akten des Prozesses gegen einen Westberliner Arzt aus dem Jahre 1969 am Berliner Landgericht (Fall Streubel, AZ.KLs II/69) gewährt worden, die ich auswerten konnte.[30]

In der Praxis des Arztes wurden Karteikarten, Krankenblätter und Erklärungen von Frauen beschlagnahmt, die Auskunft über Nachbehandlungen nach einer Fehlgeburt gaben. Gegen den Arzt und 313 Frauen wurde Anzeige erstattet. Für eine Verurteilung reichten die Erklärungen nicht aus. Die Frauen mussten die Aussage verweigern oder die Tat leugnen um nicht verurteilt zu werden. Die meisten der weniger Gebildeten waren zu einem Geständnis bereit und wurden verurteilt. Die Mehrzahl der Gebildeten verweigerten die Aussage oder ließen sich von einem Anwalt vertreten und wurden freigesprochen.

Ich bot Frigga Haug als Kader des SFB und Redaktionsmitglied der Zeitschrift „Das Argument“ einen Artikel auf Grundlage von Diplom-Arbeit und empirischer Untersuchung an und reichte diesen ein für das Heft „Emanzipation der Frau – Sexualität und Herrschaft IV“ (13. Jg. 1971, Heft 8, S.706 f.) In der Abschluss-Redaktionssitzung wurde mir zu meinem Erstaunen als Ko-Autorin Hannelore May vorgestellt, die meinen Artikel komplett marxistisch überarbeitet und auf Linie gebracht hatte. Ich wurde neben ihr als Autorin genannt, nicht aber meine zugrundeliegende Diplomarbeit. Die Ergebnisse meiner Aktenuntersuchung wurden einer anonymen Quelle zugeschrieben. Dies war meine erste Veröffentlichung, Ratschläge zur Überarbeitung waren mit Sicherheit notwendig und wären willkommen gewesen. Zum Zurückziehen des Artikels war ich trotz Enttäuschung nicht bereit, Wissenschaft hatte ich mir anders vorgestellt.

Nach Abschluss meines Studiums mit dem Diplom in Soziologie im Jahr 1971 geriet ich in eine Identitätskrise. Nicht nur die unübersehbare Entwicklung der Frauenbewegung und der studentischen Organisationen bewirkte bei mir Desorientierung und Isolierung. Meine „Vertreibung“ aus der Wohngemeinschaft in der Knesebeckstraße löste Ortlosigkeit und viele Umzüge aus. Die langjährige Beziehung zu meinem Freund war gescheitert. Unsere unterschiedlichen Lebensmodelle und Rollenauffassungen waren nicht länger miteinander vereinbar. Er musste in das Architekturbüro seines Vaters eintreten. Von der Frauenbewegung aufgenommene, enttabuisierte Themen holten mich nun persönlich ein.

Christina v. Hodenberg beschreibt ähnliche Erfahrungen anderer Frauen aus dieser Zeit: „Viele Feministinnen erlebten Trennungen, Scheidungen und Schuldgefühle gegenüber Kindern und Partnern, die sich zumindest teilweise aus ihrem Streben nach der Revolutionierung traditioneller Geschlechterrollen entwickelt hatten. Diejenigen, die dem Primat der Selbstbestimmung folgten, fanden sich oft alleinerziehend oder alleinstehend wieder…“[31].

Cristina Perincioli fasst ihre Einschätzung dieser Phase zutreffend zusammen: „Frauenbewegung wie Bürgerinitiativen können als spätes Echo auf die antiautoritäre Studentenrebellion von 1968 gesehen werden- nicht aber als direkte Folge. Denn nach der Rebellion wandte sich ein Großteil der Linken wieder hierarchischen, autoritären, dogmatischen Gruppen zu. Diese Strukturen saugten das rebellische Potential auf und erstickten es. Frauenbewegung und Bürgerinitiativen mussten noch einmal ganz von vorne beginnen: bei ihren eigenen Belangen“.[32]

Für mich stand als Alternative Promotion oder Stellensuche im Raum. Meine Eltern rieten wieder dringlich zu einer Anstellung mit festem Einkommen. Die Entscheidung wurde mir abgenommen, als mein Antrag auf ein Promotionsstipendium für das Aufbaustudium der Freien Universität bewilligt wurde. Ich begann mit der Arbeit an meiner Dissertation „Der Angeklagte – Eine sozialpsychologische Studie zum Verhalten vor Gericht“ (Wilhelm Fink Verlag, München 1977). Eigentlich hatte ich Strafprozesse gegen Frauen zum Thema machen wollen, scheiterte aber daran, dass wegen der im Vergleich zu Männern geringen Frauenkriminalität in einem überschaubaren Zeitraum zu wenig Prozesse am Landgericht Braunschweig stattfanden.

 

5. Aus der Frauenbewegung in die Universität

Die Sommeruniversität „Frauen und Wissenschaft“ wurde im Juli 1976 durch eine Gruppe von Assistentinnen, Assistenzprofessorinnen, Lehrbeauftragten und Doktorandinnen initiiert. Eine Dozentinnen-Gruppe hatte sich im Sommersemester 1975 anlässlich der Lehrveranstaltung „Marxismus und Feminismus“ am Otto-Suhr-Institut gebildet. Kolleginnen aus anderen Hochschulen kamen dazu.[33] In den sogenannten Mittelbau wurden Frauen in den Berliner Universitäten seit Ende der sechziger Jahre in nennenswertem Umfang zugelassen. Ich hatte 1973, zwei Jahre nach meinem Diplom, eine Assistentenstelle zur Leitung von neu eingerichteten Projektgruppen am Fachbereich Rechtswissenschaft angetreten.

Der Schritt aus der Autonomie der Frauenbewegung in die männlich dominierten Hochschul-Strukturen und Wissenschaften führte zunächst jede von uns in erneute Vereinzelung. Mit Frauenthemen war in den Fachbereichen kein Blumentopf zu gewinnen. Frauenforschung bewegte sich noch auf sehr dünnem Eis. Wir brauchten ein Forum zur Präsentation und Diskussion unserer frauenbezogenen Arbeit der vorangegangenen Jahre und suchten die Universitätsöffentlichkeit. Die meisten von uns mussten doppelgleisig arbeiten: Hier die Frauenforschung, dort der traditionelle Fächerkanon. Meine traditionellen Standbeine waren Rechtssoziologie und Kriminologie. Aus heutiger Sicht präsentierten wir uns mit Sommeruniversität der Öffentlichkeit als ein erstes weibliches Netzwerk.

Unsere Aktion „Sommeruniversität“ sehe ich heute als Manifestierung einer dritten emanzipatorischen Bewegung in Berliner Universitäten seit 1945. Aus der Frauenbewegung kommend haben wir begonnen, in den Hochschulen für geschlechtergerechte Strukturen und Inhalte zu kämpfen, der dortigen Abwesenheit des Weiblichen ein Ende zu bereiten. Dabei waren von den vorangegangenen studentischen Bewegungen erkämpfte gesetzliche Rahmenbedingungen für uns von Vorteil.

Erster studentischer Widerstand entstand nach Kriegsende im sowjetischen Sektor von Berlin. Auf Initiative von Studenten der Berliner Universität (seit 1949 Humboldt- Universität) wurde die Freie Universität gegründet. Politische Auseinandersetzungen, Zwangsexmatrikulationen und Verhaftungen von Studierenden durch Vertreter der sowjetischen Besatzung hatten zur Neugründung im Westteil der Stadt geführt. Hartnäckigen Studierenden war es gelungen, Vertreter der amerikanischen Besatzung und der Stadt – insbesondere Bürgermeister Ernst Reuter – von der Notwendigkeit und Möglichkeit einer Universität im West-Sektor Berlins zu überzeugen.[34]

Die Umstände, unter denen die Freie Universität geboren wurde, bezeichnete Tent als Verfasser der Jubiläumsschrift zum 4ojährigen Bestehen der FU, einzigartig in den Annalen des deutschen Hochschulwesens insofern es Studenten waren, die in frühen Stadien des Projektes die Hauptimpulse gaben.[35]

Die Satzung der FU unterschied sich entscheidend von denen anderer deutscher Hochschulen: Studenten sollten stärker als üblich am Betrieb der Universität auf allen Ebenen beteiligt sein. Sie sollten die meisten Aufgaben der Studentenverwaltung in die eigene Hand nehmen und in den meisten Ausschüssen und Gremien in der Regel mit vollem Stimmrecht beteiligt sein, auch im neugeschaffenen Kuratorium, mit dem der Stadtstaat Berlin enger an die Universität gebunden sollte.[36] Nach der Eröffnung 1949 arbeiteten Studierende gemeinsam mit Verwaltung und Professoren unter den schwierigen Bedingungen der Berliner Blockade durch die Sowjetunion, Geld- und Personalmangel sowie Raumproblemen am Aufbau der Universität.

Das damalige Zusammengehörigkeitsgefühl versiegte Mitte der 60er Jahre. Die erste Generation von Studierenden war ausgeschieden. Der Mitbestimmung von Studierenden wurde nicht mehr die frühere Bedeutung beigemessen. Die Nazi-Vergangenheit einiger Professoren führte zu internen Auseinandersetzungen. Die nach der Neugründung lediglich abwertend als politische Hochschule bewertete FU hatte sich unter Konkurrenzdruck westdeutschen Universitäten anzupassen.

Knapp zwei Jahrzehnte nach der FU-Gründung verabschiedete die versammelte Studentenschaft im Juni 1966 auf einem Sit-in eine Resolution, in der u.a. paritätisch aus Professoren, Assistenten und Studenten besetzte Ausschüsse zur Planung und Durchführung einer umfassenden Studienreform gefordert wurden. Nach der Erschießung von Benno Ohnesorg im Juni 1967 intensivierten sich die studentischen Appelle. In zahlreichen Vollversammlungen und Veranstaltungen wurden die Funktion von Universität und Wissenschaft in der Gesellschaft diskutiert.

Bei allen Aktionen, die Studenten in diesen Tagen durchführten, mussten sie erfahren, wie wenig wissenschaftliche Methoden und Inhalte zur Bewältigung eigener Erkenntnis- Interessen taugten und wie wenig sie sich bisher mit den Problemen der Stadt und ihrer Bürger beschäftigt hatten. Aus dieser Einsicht entwickelten sich Aktionskomitees und Arbeitskreise, die Veranstaltungen der Kritischen Universität nach dem Vorbild amerikanischer „free universities“ vorbereiteten. Nach heftigen Auseinandersetzungen beschloss der Akademische Senat der FU im September 1967 ein Verbot der Kritischen Universität. Die dennoch zum WS 67 vorgelegten Texte für geplante Veranstaltungen wurden im Vorwort als „voreilige, vorauseilende Zeugnisse eines Versuchs der Emanzipation von erstarrten Formen und Inhalten der akademischen Lehre“ bezeichnet.[37]

Seit 1965 hatte Wissenschaftssenator Stein (SPD) an einem neuen Hochschulgesetz gearbeitet, an dem auch eine Reihe von Studenten und Professoren der FU mitwirkten. Am 1.August 1969 trat das Gesetz in Kraft und gewährte als „Berliner Modell“ u.a. die von Studierenden seit 1961 geforderte Drittelparität für Konzil und Akademischen Senat sowie für die neu geschaffenen Fachbereiche eine Viertelparität. Das Gesetz sollte dazu beitragen, an der Freien Universität wieder ein zuträgliches Klima herzustellen. Diese Hoffnung der Reformer diente auch als Rechtfertigung für die Einführung neuer Kräfteverhältnisse in den Gremien und der Abschaffung des ASTA mit seinem politischen Mandat.[38]

Die neuen Viertel-Parität-Mehrheiten auf Fachbereichsebene (7 Professoren: 4 Mittelbauer: 3 Studierende: 1 Vertreter Hochschulbedienstete) haben mit großer Wahrscheinlichkeit dazu beigetragen, den Frauenanteil im Mittelbau der FU zu vergrößern. Am konservativen Fachbereich Rechtswissenschaft wäre 1973 unter den alten Mehrheiten meine Einstellung als Soziologin zur Leitung von Projektgruppen undenkbar gewesen. Eine linksliberale Mehrheit der Mittelbauvertreter im Fachbereichsrat überlebte allerdings nur wenige Semester. Sobald die konservative Mehrheit wieder hergestellt waren, fasste der Fachbereichsrat im Dezember 74 einen Beschluss, der offensichtlich auch auf meine Absetzung zielte.[39] Der Ausschreibungstext meiner Stelle erlaubte mir jedoch weiterhin bis zum Ablauf meines dreijährigen Vertrages ohne Anbindung an einen juristischen Lehrstuhl in der Lehre tätig zu bleiben.

 

6. Die Töchter der Alma Mater organisieren sich

Die Erste Frauen-Sommeruniversität 1976 kam für die wissenschaftliche Öffentlichkeit scheinbar aus dem Nichts. Fortschrittliche Bildungspolitiker des Max-Planck-Institutes für Bildungsforschung erkannten 1979 durchaus die Starre des bundesdeutschen vertikalen Bildungssystems, das gepaart war mit großen sozialen, regionalen, konfessionellen und geschlechtsspezifischen Disparitäten. Kritik seit den 60er Jahren hatte diese Benachteiligungen eindrücklich veranschaulicht im Bild der „katholischen Arbeitertochter vom Lande“. Doch eine erfreut klingende Feststellung der Bildungswissenschaftler, in den letzten Jahren habe die Diskussion über die Benachteiligung von Frauen im Bildungswesen eine neue Wendung genommen, verharrte in geschlechtsneutraler Betrachtung und fragte nicht danach, wer diese Wende eigentlich bewerkstelligt hat.[40]

Junge Wissenschaftlerinnen und Studentinnen hatten sich, wie andere Frauenbewegte, nach der Zersplitterung der Studentenbewegung zurückgezogen oder in Gruppen aufgespalten. Cristina Perincioli beschreibt die Zeit Anfang der siebziger Jahre als „Jahre der Suche“, die einfach so verstrichen. Auseinandersetzungen zwischen den bewegten Frauen über den richtigen Weg, die richtige Politik machten das Leben in der Szene anstrengend. Die neuen weiblichen Prinzipien Unmittelbarkeit, Sich-Selbst-Ernst-Nehmen und Autonomie mussten in der eigenen wissenschaftlichen Arbeit ohne Vorbilder und meist fehlende Einbindung in den wissenschaftlichen Betrieb der Universitäten erlernt und mutig angewandt werden.[41]

Zunächst individuell, isoliert, dann doch zunehmend vereint, machten sich Frauen auf den steinigen Weg IN ihre jeweiligen Fächer der Universitäten. Nicht auf einen Marsch DURCH die Institutionen wie in der Studentenbewegung gefordert (Wohin wollten die Männer eigentlich, nachdem sie die Institutionen „durch“ hatten?). Die Alma Mater, diese fiktive gütige Mutter, die seit der Gründung von Universitäten vor mehr als fünfhundert Jahren Männer mit Bildung und Wissen nähren sollte, konnte endlich auch ihre Töchter in die Arme schließen. Allerdings nicht mehr fiktiv, metaphorisch, verlogen sondern nun forderten ganz reale, entschlossene Frauen in wachsend selbstbewusster Konkurrenz zu männlichen Kollegen angemessene Beteiligung sowie in der Wissenschaft Berücksichtigung persönlicher Erfahrungen.

Inzwischen recht vergilbte Uni-Frauenzeitungen dokumentieren eindrucksvoll, wie sich Frauen in Berlin Mitte der 70er Jahre an den Hochschulen organisiert haben. Relativ schnell traten sie in die universitäre Öffentlichkeit. Informiert wurde in maschinenschriftlichen und vervielfältigen Zeitschriften z.B. über deutsche, auf dem Gebiet der neuen Frauenbewegung arbeitende Gruppen, Kontaktadressen von Frauen in den Fachbereichen Berliner Hochschulen, Frauentreffpunkte, Frauenbuchläden und Kneipen, Frauenveranstaltungen, Mütter-Kinder-Gruppen sowie Frauenprojektgruppen und Frauen-Seminare. Einen guten Eindruck von der Arbeit der Frauengruppen in den Fachbereichen vermittelt das Protokoll von der ersten Sitzung Frauenzeitungsgruppe vom Mai 1975 (Nebenwiderspruch, Oktober 1975, maschinen- und handschriftliches Manuskript, vervielfältigt, 23 Seiten, S. 6-8):

„Wir machen eine Zeitung“, eine Frauenzeitung, eine Uni-Frauenzeitung

Warum? Das Plenum, an dem Vertreterinnen der einzelnen Fachbereichsgruppen teilnehmen sollten, um Informationen auszutauschen, klappt nicht mehr und muß ersetzt werden. Die Informationen aus den einzelnen Fachbereichen sind aber wichtig für uns, wir brauchen diesen Austausch von Erfahrungen, Anregungen zu Aktionen, Hilfe bei auftretenden Schwierigkeiten, eine außerfachbereichliche Verbindung. Unsere Erfahrungen, unsere Probleme und eventuellen Lösungen sollen auch anderen zugänglich gemacht werden, die vielleicht noch nicht wissen, daß es Frauengruppen an den einzelnen Fachbereichen gibt und vielleicht sogar Lust bekommen, mitzumachen. Öffentlichkeit herstellen.

Was läuft so in den einzelnen Frauen-Fachbereichs-Gruppen?

Soziologie… Für das nächste Semester planen sie ein Frauenprojekt (bei Carol H.-W.). Sie bemühen sich um Räume an der Uni (als Kontaktzentrum), sie machen Studienkollektive (z.B. AG über die weibliche Sexualität bei Freud).

PH… Wobei sich die Frage stellt: Soll man Aktivitäten unternehmen, um bekannt zu werden ? Wenn wir selbst noch Schwierigkeiten haben, unsere Interessen zu koordinieren, was sollen wir dann Neuen sagen?

FB 16 (Germanistik)… Jetzt versuchen sie als Einstieg einen Selbsterfahrungsbericht, der sich hauptsächlich auf die Uni-Situation einschließlich der Arbeitsschwierigkeiten bezieht. Hierüber hoffen sie, ihre Bedürfnisse konkreter bestimmen zu können.

FB 12 (Erziehungswissenschaften)… Sie haben ihre inhaltliche Diskussion vorläufig zurückgestellt zugunsten der Arbeit an einer soliden! Studienberatung für nächstes Semester

FB 13 (Geschichtswissenschaften)… Hier besteht die Frauengruppe aus 7 Frauen. Wenn man die wochenlangen Aktionen bedenkt, die unternommen wurden, um neue Frauen anzusprechen, ziemlich bekümmerlich. (…)

FB 15 (Politische Wissenschaften)… Ein großes Problem wegen des Frauenseminars liegt an: Ein Typ hat der Ingrid schon zweimal mit einer Klage gedroht wegen Ausschluß vom Seminar. Das widerspräche dem Gleichheitsgrundsatz. Wie sollen wir uns jetzt verhalten ? Ein Urteil zu seinen Gunsten hätte Auswirkungen auf alle Frauenseminare. Sollte man die Konfrontation mit der Institution vermeiden ? Wie sind die eigenen Kräfte einzuschätzen? (…)

Fazit:

Bei allen Schwierigkeiten sollten wir nicht vergessen: Nicht auseinanderdividieren lassen !!! Bei allen möglichen Differenzen, sollten wir uns daran erinnern, daß uns doch so viele gemeinsame Bedürfnisse und Probleme verbinden, auf die wir uns konzentrieren sollten. Die Auseinandersetzungen können später laufen. Wichtig ist doch erst einmal, auf der vorhandenen Basis (die wir ja aufgrund unseres Geschlechts und der daraus abzuleitenden Situation haben) aufzubauen!“

Die gleiche Ausgabe vom „Nebenwiderspruch“ enthält einen Bericht über ein Dozentinnen-Plenum im Marxismus-Feminismus-Seminar des Otto-Suhr-Institutes der Freien Universität. Die Vorbereitungsgruppe hatte mehrere Assistentinnen, Assistenzprofessorinnen und Professorinnen eingeladen und ein Papier vorgelegt, in dem die Dozentinnen über ihre Arbeitssituation an der Uni im Zusammenhang mit ihrem Privatleben befragt wurden. Die Dozentinnen waren sich einig darüber, dass sie als Frauen in der Institution in höherem Maße qualifiziert sein müssten als Männer in vergleichbaren Positionen. Einige fühlten sich in ihrer Arbeit in erster Linie durch rechte Fraktionen und deren einschränkenden Maßnahmen im Fachbereich bedroht und ordneten ihre eingestandene Unterdrückung als Frau diesem Aspekt ganz klar unter. Obwohl von den meisten festgestellt wurde, dass auch Liberale und Linke durchaus nicht kleinlich mit frauenfeindlichem Gerede seien, hielten sie doch für notwendig, sich mit ihnen zusammenzutun, um nicht isoliert arbeiten zu müssen. Die Assistentinnen von TU und PH beschrieben ausführlich, dass Männer sich von Frauen nicht „aus ihrem Revier“ verdrängen lassen wollten. Bei den Juristen und Philosophen täten rechte Technokraten einiges dafür, die alte Ordinarienuniversität neu poliert wiederherzustellen.

Die Studentinnen des Seminars stellten für sich fest, dass die Auseinandersetzung mit den Dozentinnen weitergehen solle. Diese müssten dort gestützt werden, wo sie als Frauen in der Institution in die Alibiecke gestellt und am wissenschaftlichen Katzentisch gehalten würden – zusammen mit den Studentinnen selbst. Aber dort, wo sie die Studentinnen nicht unterstützten und nichts dagegen täten, dass in ihren Institutionen Frauen und Frauenfragen ausgebootet, fallengelassen, nicht beachtet oder sonst wie diskriminiert würden, „sollten wir sie kritisieren“.[42]

An der Hochschule für bildende Künste Berlin hatte sich eine Frauengruppe in die Öffentlichkeit gewagt und in ihrer maschinenschriftlichen, bebilderten Frauenzeitung sehr deutlich mit Professoren ihrer Schule abgerechnet. Ihre mutige, schockierende Ausstellung über die allgemeine Unterdrückung von Frauen löste am 22.3.1973 eine heftige Auseinandersetzung im Berliner Abgeordnetenhaus aus. Die damalige Senatorin Ilse Reichelt stellte sich schützend vor die Studentinnen. Sie sagte in der Debatte, die Zusammensetzung dieses Parlamentes zeige, dass provokatorische Mittel offensichtlich erforderlich seien, um die Frauen stärker an öffentlichen Fragen zu beteiligen.[43]

So formulierten die Kunststudentinnen ihr eigenes Kunstverständnis im Rahmen der Kritik an ihrer Ausstellung:

„Der Künstler arbeitet aus einem subjektiven Verständnis heraus. Darum muß er seine Probleme interessant machen, d.h. sich selbst problematisieren. Da dies ein anstrengender Prozeß ist, weil die eigene Problematik bald erschöpft ist, müssen Künstler und Produkt mystifiziert werden. Dies verläuft für den Künstler selbst unkontrolliert, weil er nicht weiß, für wen und wozu er arbeitet und ist deshalb auch für den Betrachter nicht kontrollierbar. Das ist das, was uns von den Künstlern grundsätzlich unterscheidet! Weil wir von der gesellschaftlichen Realität ausgehen, stellen wir konkrete, überprüfbare und alltägliche Situationen dar. Wir konfrontieren mit einer Sache, die man ständig erlebt, aber die man einfach nicht gewohnt ist, dargestellt zu sehen und auch nicht sehen möchte. Durch diese Konfrontation wird eher eine Auseinandersetzung mit dem Inhalt provoziert. Dies wird besonders deutlich an dem aggressiven Verhalten der Profs an unserer Schule, weil sie sich durch diese Arbeit als Männer und privilegierter Künstler angegriffen fühlen. Wir fragen uns manchmal, was machen die eigentlich! Unser Machen messen wir daran, wie wir von unserer Zielgruppe angenommen und verstanden werden. Sie ist unserer Korrektur. Wir wollen es nicht messen an herkömmlichen, ästhetischen Vorstellungen, die männlich geprägt, individualistische-idealistische sind. Die Diskrepanz zwischen Profs und Zielgruppe wird daran deutlich, indem Profs meinen, das wäre doch alles schon mal dagewesen und damit überflüssig; die Zielgruppe aber an der Ausstellung ein großes Interesse hat, sie wichtig findet und sie sehen will .Daran sollten die Profs sehen, in welchem isolierten Rahmen sie sich befinden, durch diese Gruppenarbeit ihr Individualismus in Frage gestellt wird und daran merken, daß sie nichts zu sagen haben und niemandem was sagen!“[44]

Nach der Organisation in fachbereichs- und hochschulübergreifende Gruppen folgte der nächste strategische Schritt in unsere wissenschaftlichen Fachgesellschaften.

In meinem Fall war dies zum einen der „Arbeitskreis Junger Kriminologen“ (AJK), in dem sich recht bald Kriminologinnen zu einer Gruppe zusammenfanden. Schwieriger war der Sturm auf die ehrwürdige, 1909 von Max Weber und anderen bedeutenden Männern gegründete, Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS). In einem von Wolfgang Glatzer verfassten Artikel „Deutsche Gesellschaft für Soziologie in der Nachkriegsperiode“ findet sich im Abschnitt „Abschließende Bemerkungen“ die herablassend geschlechtsneutrale Feststellung „Und die Bemühungen, Soziologinnen in die DGS zu integrieren, waren von Erfolg begleitet.“[45] Nach der Organisation in fachbereichs- und hochschulübergreifende Gruppen folgte der nächste strategische Schritt in unsere wissenschaftlichen Fachgesellschaften.

Die erste abgelehnte Initiative von Frauen um Aufnahme in die DGS wird in Glatzers historischem Rückblick unterschlagen. Wessen Bemühungen waren erfolgreich?

Erstmalig hatte die Sektionsinitiative „Frauenforschung in den Sozialwissenschaften“ 1976 dieses Anliegen dem Konzil der DGS vorgetragen. Gegen die Gründung einer Sektion Frauenforschung wurden zwei Hauptargumente vorgebracht:

„1) Der Erforschung einer allgemeinen Interessenlage muß Vorrang gegeben werden vor der Erforschung partikularer Interessen, wie sie sich angeblich in Frauenforschung ausdrücken.
2) Eine historische Parallele zur Etablierung von Frauenforschung in den angelsächsischen Ländern und deren soziologischen Gesellschaften ist zu vermeiden.“

Auf der Tagung der Sektionsinitiative 1978 in München wurde erneut ein Antrag zur Gründung einer Sektion für Frauenforschung in den Sozialwissenschaften in der DGS u.a. mit folgender Begründung formuliert: „Dieser Antrag begründet die Notwendigkeit der Einrichtung einer Sektion…in der DGS und entwickelt die Schwerpunkte der Sektionstätigkeit für die nächste Zeit. Der Antrag beruht auf dem Interesse, eine angemessene Organisationsform zu finden, mit der Frauenforschung weiterentwickelt werden kann und die eine produktive Auseinandersetzung mit der bereits verfaßten „Gemeinschaft der Forschenden“ erlaubt…“[46]
1979 wurde die Sektion Frauenforschung in der DGS gegründet.

Allerdings erschien 1982 einer Gruppe von Berliner Soziologinnen auf dem Bamberger Soziologentag (Zur Krise der Arbeitsgesellschaft) doch noch mehr Öffentlichkeitsarbeit nötig. In einem VW –Bus hatten außer uns (ich weiß nicht mehr, wer außer mir noch dabei gewesen ist) zwei überlebensgroße Stoffpuppen Platz gefunden. Wir platzierten sie stellvertretend für fehlende Frauen in der Soziologie während der Eröffnungsveranstaltung dekorativ direkt neben dem Rednerpult. Wir hatten nicht den erwünschten Erfolg. Alle männlichen Redner, u.a. Ralf Dahrendorf und Claus Offe, stiegen vorsichtig über die Puppen hinweg, erwähnten diese aber mit keinem Wort. Die örtliche Bamberger Lokalzeitung berichtete am nächsten Morgen darüber und schloss mit den Worten „Der Sinn der Aktion blieb offen.“

Die Bezeichnung „Soziologentag“ wurde 1992 auf Druck der Sektion Frauenforschung abgeschafft und geschlechtsneutral nur noch „Deutsche Gesellschaft für Soziologie“ verwandt. Im Jahre 1999 wies das Adressregister der Sektion Frauenforschung der DGS mehr als 500 Frauen als Mitglieder aus.

Die Sektion war eine der ersten Vereinigungen von Wissenschaftlerinnen innerhalb einer wissenschaftlichen Gesellschaft in Deutschland. In der Einladung zum 40jährigen Bestehen der Sektion im November 2019 ist die Rede von einer Zeit voller Debatten, Kämpfe und Erfolge um die Anerkennung der Frauen- und Geschlechterforschung.[47]

 

7. Suche nach angemessenen Theorien und Methoden

Zwischen dem Wandel der Geschlechterordnung und dem Wandel der Wissensordnung bestehe eine enge historische und inhaltliche Verbindung, formulieren Christina v. Braun und Inge Stephan als Herausgeberinnen des Buches Gender @ Wissen.[48] Erst Anfang der siebziger Jahre, in Folge des von der 68erBewegung in Gang gesetzten gesellschaftlichen Wandels, begannen Frauen zu erkennen und deutlich zu machen, dass die Wissenskategorie „Geschlecht“ aus der Wissenschaft systematisch ausgeschlossen oder in Stereotypen eingeschlossen war. Frauenforscherinnen konnten in Forschung und Lehre nur auf männlich geschaffenes Wissen zurückgreifen, das als geschlechtsneutral ausgegeben wurde.

Wir Frauen trugen Fragestellungen und Forderungen aus der Frauenbewegung in die Universität hinein. Schon 1967 hatten auch die studentischen Veranstalter der Kritischen Universität das Bedürfnis geäußert, mehr über sich und die Gesellschaft außerhalb der Universität erfahren. Doch ihr Programm kam zu kopflastig daher. Sie hatten keinen Erfolg.[49] Wir Frauen wagten uns näher an uns selbst und fremde weibliche Lebenswelten heran. Wir wollten nicht länger das Geschwafel vom „Wesen der Frau“ oder biologistischen Unsinn wie etwa eine Warnung vor Frauen, die während ihrer Menstruation besonders anfällig für Kriminalität seien.[50]

Nicht vorhandenes Wissen über die Frau, das unbekannte Wesen, machte in der Anfangsphase der Frauenforschung häufig zunächst einmal eine schlichte Bestandsaufnahme weiblicher Lebenssituationen notwendig. Kritiker beiderlei Geschlechts stellten nicht nur einmal die Frage, ob denn das Wissenschaft sei, was wir da trieben und was dieser Praxisaufwand für Lehre und Forschung an der Hochschule bringe.

Die theoretische Fundierung unseres feministischen Verständnisses entwickelte sich für alle Fächer in den Folgejahren mit einer für Wissenschaft unüblichen Geschwindigkeit und Originalität. Karin Ludewig hat benannt, was ich heute unter feministischer Theorie begreife. Darunter „wird … die in der Nachfolge der politischen Frauenbewegung nach 68 entstandene wissenschaftliche Forschung verstanden, die sich innerhalb eines jeden Fachbereichs oder auch interdisziplinär jeweils mit Themen beschäftigt, welche speziell auf Frauen oder deren Lebenszusammenhänge und Seinsweisen bezogen sind, die sich dabei methodisch deren Perspektiven zu eigen macht und die explizit oder implizit für ihre Interessen Partei ergreift.“[51]

Sowohl in der Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen am juristischen Fachbereich der Freien Universität als auch bei meiner späteren Tätigkeit in der einphasigen Juristenausbildung in Hannover blieb es bei additiver Interdisziplinarität. Kolleginnen und Kollegen vertraten ihre jeweiligen Fachrichtungen, der Begriff co-disziplinär wäre zutreffend. Verbindend war immer gemeinsames Interesse an der Erforschung und Sichtbarmachung bisher verborgener Lebenssituationen von Menschen in der sogenannten Rechtswirklichkeit.

In den 3 Jahren meiner Assistententätigkeit in Berlin konnte ich in verschiedenen Projektgruppen mit Vertretern aus Universität und Praxis zusammenarbeiten: mit einer Forensischen Psychiaterin, der Jugendgerichtshilfe Schöneberg, dem Jugendhof, einer Sozialwirtin, einem Mediziner, einem Juristen des Bundeskartellamtes, einem Pharmazeuten, mit Richtern und Rechtsanwälten. Diese Projektgruppen waren eine Neuerung in der Studienordnung des Juristischen Fachbereichs. Als Bestandteil der regulären Ausbildung erfreuten sie sich nur bedingt der Beliebtheit bei der überwiegend konservativen Professorenschaft. Nach erfolgreicher Teilnahme im Projekt erhielten die Studierenden Bescheinigungen über außerstrafrechtliche Bezüge und das Praktikum.[52]

Durch meine Tätigkeit am Fachbereich Rechtswissenschaft der FU habe ich zwei beeindruckende Frauen kennengelernt, mit denen ich neue Arbeitsformen interdisziplinär, praxisbezogen mit Frauenprojekten ausprobieren konnte: Die Professorinnen Gertrud Hardtmann und Jutta Limbach, beide einer Generation vor mir entstammend, anerkannte Wissenschaftlerinnen und zugleich Mütter von jeweils drei Kindern.

Die Arbeitsergebnisse der Zusammenarbeit in zwei Projektgruppen mit der damaligen Assistenzprofessorin, Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie und Psychoanalytikerin Gertrud Hardtmann haben in unserer Veröffentlichung „Frauen im Gefängnis“ (edition suhrkamp 1978) Niederschlag gefunden. Wir haben unsere Lehrveranstaltung ins Frauengefängnis Lehrter Straße verlegt und mit den Studierenden regelmäßig inhaftierte Frauen in einer Schreibgruppe getroffen. Unser Buch enthält Beiträge von beteiligten Inhaftierten, Studierenden, uns Dozentinnen sowie Berichte aus der Arbeit mit straffälligen Frauen aus anderen Einrichtungen in der BRD.

Ein knappes Jahr nach Beginn unserer Projektarbeit wurde mir im Mai 1975 vom Senator für Justiz der Zutritt zur Lehrter Straße untersagt mit der späteren mündlichen Begründung: Ich sei ein Sicherheitsrisiko für die Anstalt. Ich hatte mit einer Frau zusammengewohnt, gegen die ein Ermittlungsverfahren gemäß §129 StGB (Bildung einer kriminellen Vereinigung) anhängig sei. Außerdem sei im SS 1975 vom Sozialistischen Arbeitskollektiv Jura an der FU Berlin meine Lehrveranstaltung „Verhalten von Angeklagten vor Gericht“ empfohlen worden. Gertrud führte die Gruppe zunächst allein weiter. Ich legte mit Hilfe eines Anwalts Beschwerde ein. Drei Monate später wurde das Verbot aufgehoben. Unser Anwalt Matthias Zieger hatte Vorrang des Ausbildungsinteresses an einem Praxisbezug unserer 24 beteiligten Studierenden geltend gemacht; dem wurde erstaunlicherweise gefolgt.

Außer Berichten über die Arbeit mit weiblichen Gefangenen wurde in unserer Veröffentlichung ein bereits 1974 in der Zeitschrift „Kritische Justiz“ publizierter, von Gertrud und mir verfasster Artikel aufgenommen:„Frauenkriminalität“ (Heft 3/4, 1974) . Dieser Artikel zeigt aus heutiger Sicht das eingangs beschriebene Theorie-Dilemma. Wir versuchten einen Neuansatz für die Erklärung weiblicher Kriminalität und konnten nur auf Bruchstücke feministischer Vorarbeiten, vor allem aus den USA, zurückgreifen. Ich stellte Überlegungen an für einen materialistischen Ansatz der doppelten Unterdrückung der Frau durch Lohnarbeit und den Mann und zitierte den von Marx formulierten Verbrechensbegriff als „Kampf des isolierten Einzelnen gegen die herrschenden Verhältnisse“ (MEW Bd.3, S.312). Gertrud stützte sich auf Freudsche Arbeiten zum Penis-Neid. Innerhalb des Textes stehen meine soziologische Position und die psychoanalytischen Ausführungen von Gertrud unkommentiert nebeneinander.

Irgendwie strahlt dieser Artikel eine verwegene Zuversicht aus: Ich schrieb, heute erscheine die Abschaffung von Männerherrschaft möglich. Dass diesen Tendenzen sich gesellschaftliche Widerstände entgegenstellten, lasse auf die enorme Bedeutung der Frauenunterdrückung für unser Sozialsystem schließen (S. 199). Was war ich erst stolz auf dieses kleine rote Buch in der berühmten regenbogenfarbigen Taschenbuch-Reihe, um dann allmählich mit dem Entstehen und Bekanntwerden feministischer Arbeiten zum Bild der Frauenarbeit im Marxismus und Kritik an der Freudschen Penis-Neid- Interpretation zu begreifen, dass ich aus männlichen Denkweisen noch längst nicht herausgekommen war.

Bis heute in ihrer Originalität unübertroffen: Die Arbeit der früh verstorbenen Christel Neusüß, „Die Kopfgeburten der Arbeiterbewegung oder Die Genossin Luxemburg bringt alles durcheinander“, Rasch und Röhring, Hamburg 1985

Der Beitrag von Jutta Limbach zur Rechtslage türkischer Frauen im TIO stellt die Beratungsarbeit mit ihren komplexen Anforderungen und Problemlagen vor. Dargestellt wird inbesondere die aus der gesellschaftlichen und familienrechtlichen Stellung türkischer Frauen resultierende Rechtsunsicherheit . Limbach beschreibt bedrückende Beispiele der Benachteiligung alleinstehender Frauen und Mütter: ausstehende Unterhaltszahlungen; kulturell geprägte Frauenbilder; drohende Abschiebungen nach einer Trennung vom Ehemann wegen Misshandlung infolge des vom Ehemann abhängigen Aufenthaltsrechts; Sorgerechtskämpfe auf dem Hintergrund komplizierter deutsch-türkischer Rechtsverhältnisse und deren Auslegung durch Berliner Behörden.1979/80 leitete ich als Professorin für Sozialpädagogik zusammen mit Jutta Limbach, der damaligen Professorin für Zivilrecht und späteren Vorsitzenden des Bundesverfassungsgerichtes, ein Projekt, das vom Förderprogramm für junge Wissenschaftlerinnen an der Freien Universität finanziert wurde. Forschungsgegenstand war die Arbeit des ersten türkischen Frauenladens in Berlin, dem Treff- und Informationsort für Frauen aus der Türkei (TIO), in dem die Sozialarbeiterinnen Elisabeth Bagana und Deniz Camlikbeli sowie die Soziologin und Politikwissenschaftlerin Cornelia Mansfeld gearbeitet haben. Untersucht wurden die Lebenssituation von Frauen aus der Türkei und Möglichkeiten der Sozialarbeit mit ihnen. Außerdem wurden vertieft Probleme der Frauen wie soziale Sicherung, Wohnverhältnisse, Misshandlungen, Rechtslage erfasst.[53]

Zu einigen Problemlagen entwickelte Limbach rechtliche Lösungsvorschläge zugunsten der Frauen. Manche davon wurde Jahrzehnte später für Gesetzesänderungen aufgegriffen. Ihre Ausführungen geben zutreffend wieder, was Susanne Baer als gängige feministische Rechtspraxis jener Zeit beschrieben hat: Ehrenamtlich arbeitende Rechtsanwältinnen standen oft vor unlösbaren Problemlagen.[54]

Die Betreuung dieses Forschungsprojektes stellte uns und die federführende Senatsverwaltung vor viele praktische Probleme. Wie sollte z.B. Spielzeug für Kinder im Laden in der Abrechnung von Forschungsmitteln begründet werden? Uns Leiterinnen brachte sie den Vorwurf fehlender Wissenschaftlichkeit ein. Ich schrieb einen neuen Forschungsplan, der höflich von den TIO-Frauen zur Kenntnis genommen wurde, die Kopien verschwanden bald. Jutta Limbach und ich versuchten es mit Änderung unseres Verhaltens und neuen Spielregeln. Wir brachten Kuchenpakete mit in den Laden oder bestellten die Frauen in Juttas Dienstzimmer in der Universität. Ich begriff schließlich, dass wir mit Methoden der traditionellen Sozialforschung nicht weiter kommen würden, entdeckte die neu aufgekommene Aktionsforschung und konnte unser Vorgehen methodisch neu reflektieren und interpretieren.

Die Forschungsmittel waren dem TIO bis Ende 1981 zugesagt, die Zusage wurde kurzfristig zurückgezogen. Wenig später war dem Landespressedienst Berlin zu entnehmen, dass die zuständige Sozialsenatorin Brunn ein Projekt zur Analyse der Lebenswelt türkischer und kurdischer Frauen in Berlin-Spandau und Neukölln fördern wolle. Die Etablierung von Gegenprojekten von staatlicher Seite war, wie sich später auch für andere autonome Projekte zeigte, offensichtlich eine Reaktion auf darin geäußerte Gesellschafts- und Patriarchatskritik.

Die Diplom-Soziologinnen Claudia Haarmann und Monika Heggenberger haben – ebenfalls durch die Berlin Forschung unterstützt – unter meiner Projektleitung „Durchsetzungsstrategien autonomer Frauenprojekte in Berlin (W)“ (FU Berlin 1990) untersucht. Es handelte sich um die wichtigsten Berliner Frauenprojekte:

  • Das „Erste Frauenhaus“ des Vereins zur Förderung des Schutzes misshandelter Frauen e.V.
  • Notruf und Beratung für vergewaltigte Mädchen und Frauen – Frauen gegen Vergewaltigung e.V.
  • TIO – Treff-und Informationsort für türkische Frauen
  • Hydra – Verein zur Förderung der beruflichen und kulturellen Bildung weiblicher Prostituierter e.V.
  • Wildwasser – Arbeitsgemeinschaft gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen e.V.
  • Lieselotte Zwiespalt- Treffpunkt und Beratung für Frauen im Umfeld der Psychiatrie e.V.

Im Nachhinein gesehen war dieses Forschungsprojekt eine in diesem Rahmen nicht lösbare Mammut-Aufgabe sowohl vom Umfang her als auch wegen fehlender feministischer Vorarbeiten zum Verhältnis von Frauenpraxis und Frauenforschung. Der Beirat von Expertinnen und Experten des Projektes zeigte sich nach Vorlage des dritten Zwischenberichtes unzufrieden mit den Ergebnissen und meiner mangelhaften Betreuung. Die Kritik an mir als Projektleiterin konnte ich akzeptieren, nicht aber die an der angeblichen methodischen Unzulänglichkeit der Arbeit.

Das motivierte mich zum tiefen Eintauchen in die feministische deutsche und amerikanische Methodendiskussion. Immerhin hatten mir 1976 beide Gutachter meiner Dissertation, Professor Hans Peter Dreitzel und Professor Jarg Bergold, methodisch vorbildliches Vorgehen und starkes Methodenbewusstsein bescheinigt. Ich lernte bei der Lektüre von der amerikanischen Wissenschaftstheoretikerin Sandra Harding, der eher in programmatischen Aussagen bestehende Rahmen „Geschlechterverhältnisse“ liefere eigentlich wenig Ermutigung um unseren Forschungsfragen nachzugehen. Es seien nicht immer die stabilen und kohärenten Theorien, die am annehmbarsten erscheinen. „Zu diesem geschichtlichen Zeitpunkt sollten die analytischen Kategorien im Feminismus instabil sein. Wir müssen lernen, daß unser Ziel im Augenblick nur darin bestehen kann, zwischen und über den Grundrhythmen der verschiedenen patriarchalen Theorien und unserer eigenen melodischen Transformation dieser Theorien eine Art von erhellender Improvisation zu intonieren statt den Rhythmus irgendeiner bestimmten Theorie… so zu verändern, daß er zu dem paßt, was wir gerade sagen wollen.“[55]

 

8. Zum Geschlechterverhältnis im Recht

Im Sommer 1976, dem Sommer der ersten Frauenuniversität, wechselte ich vom Fachbereich Rechtswissenschaft der FU Berlin aus der zweistufigen Juristenausbildung in das einstufige Reformmodell an der Fakultät für Rechtswissenschaften der TU Hannover. Ich wurde wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl Soziologie des abweichenden Verhaltens und der sozialen Kontrolle von Professor Fritz Sack, dem deutschen „Papst“ der neuen Kritischen Kriminologie, einem Vertreter des aus den USA importierten „labeling approach“.

Im Zuge der Reform der Juristenausbildung war die einstufige Form als Alternative zur herkömmlichen Ausbildung mit dem Rechtsreferendariat im September 1971 durch eine Experimentierklausel des §5b des Deutschen Richtergesetzes eingeführt worden. Dieses Projekt wurde von acht Bundesländern als Versuch umgesetzt. Anstelle der herkömmlichen Staatsexamina traten Zwischenprüfungen oder Leistungskontrollen.[56]

Die Anknüpfung des Feminismus und gar einer feministischen Rechtskritik an rechtstheoretische Überlegungen und die herrschenden Denktraditionen und Theorien bürgerlichen Rechts seien keineswegs selbstverständlich… Unter Feministinnen war und sei Recht aus vielen Gründen diskreditiert. Rechtsskepsis und Rechtsnihilismus gründeten sich auf die vielfältigen, schlechten Erfahrungen von Frauen mit Recht… schrieb Ute Gerhard 2018 und bezeichnete den Widerspruch zwischen der befreienden Funktion von Recht und den Erfahrungen von Frauen mit Unrecht als Anlass und Beweggrund für ihre (umfangreichen und grundlegenden) Studien zu Frauen und Recht.[57]

Dem kann ich mich anschließen. Mit den Erfahrungen in Frauenprojekten während meiner Arbeit in der juristischen Fakultät der FU veränderte sich nicht nur mein theoretisches und methodisches Denken – auch der Glaube an das angeblich geschlechtsneutrale Recht erwies sich als unhaltbar. Dass von Gleichheit vor dem Gesetz für Männer und Frauen nicht die Rede sein kann, wurde mir insbesondere durch die Bekanntschaft mit türkischen Frauen im TIO erschreckend deutlich. Vier Jahre nach unserer Projektphase eskalierte die Ablehnung des TIO durch türkische Männer in brutale Gewalt: Im September 1984 geriet der Verein TIO in die Schlagzeilen durch einen Anschlag, bei dem eine Frau getötet wurde und eine zweite schwere Verletzungen davontrug. Eine Anklage gegen den Tatverdächtigen endete mit Freispruch. Der Täter wurde dem Umfeld der Grauen Wölfe zugeordnet.[58]

Meine Perspektive in Bezug auf das Strafrecht verlagerte sich vom Täter auf die Opfer, In meiner Dissertation hatte ich die Situation von Angeklagten untersucht, die häufig der komplexen Gerichtssituation nicht gewachsen sind. Ich wurde radikaler im Sinne „Wer etwas verbrochen hat, muss bestraft werden“.

In den juristischen Fakultäten hielt feministische Rechtskritik relativ spät Einzug. Wenn nordamerikanische Texte der feministischen Rechtswissenschaft gelesen wurden, waren sie als Anregung zum Querdenken, nicht aber als konkrete Auseinandersetzung mit juristischen Fragen zu verstehen.[59] Das Gleiche gelte auch für die sogenannte Kritische Kriminologie, in der die in der Frauenbewegung längst geführte Debatte um die Gewaltproblematik aus der Geschlechterperspektive bis dahin nur vereinzelt als Forschungsgegenstand aufgegriffen wurde, kritisierte Christine Künzel.[60] Im aufgeschlossenen Klima verschiedener Disziplinen an der Fakultät in Hannover konnte ich jedoch außerhalb meiner Lehre im traditionellen Kanon des Strafrechts neues feministisches Denken einbringen.

Gemeinsam mit dem Verwaltungswissenschaftler Hubert Treiber entstand aus dessen Interviews mit Müttern Inhaftierter das Buch „ Leiden als Mutterpflicht, Mütter von strafgefangenen Jugendlichen berichten“ (Westdeutscher Verlag, Opladen 1980). Wir bearbeiteten eine bislang völlig vernachlässigte Dimension des Frauenlebens: u.a. die Situation der Angehörigen von Strafgefangenen; ihre Empfindungen; ihr Verhältnis zu anderen Familienangehörigen; typische Reaktionsweisen von Nachbarn und Arbeitskollegen; Versuche, die kriminelle Karriere des Sohnes aufzuhalten. Diese Mütter seien –so der Soziologe Heinz Steinert in seinem Vorwort – relativ unmittelbar zentral in dem Verhältnis von Staat und Täter, weil sie so bereitwillig die privatisierten Kosten unserer hilflosen Art des Umgangs mit gesellschaftlichen Schwierigkeiten der jugendlichen Täter auf sich nähmen (S.16).

Ausdruck reformbereiter juristischer Kultur in der BRD war Ende der 70er Jahre das Entstehen von Alternativkommentaren zu bestehenden gesetzlichen Regelungen. Erst seit 1977 regelte ein Strafvollzugsgesetz in Deutschland den Vollzug der Freiheitsstrafe in Justizvollzugsanstalten und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung. Davor gab es nur die Strafvollzugsordnung von 1934, die auf der Auffassung vom besonderen Gewaltverhältnis zwischen Täter und Tat basierte: Danach bedurften Grundrechtseinschränkungen von Personen wie Strafgefangenen keiner gesetzlichen Grundlage. Erst das Strafgefangenen-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1972 zwang den Gesetzgeber zum Erlass eines Strafvollzugsgesetz (StVollzG).

Ich bearbeitete in meinem Kommentar zum StVollzG den Zehnten Titel, die „Besonderen Vorschriften für den für den Frauenstrafvollzug“ (§§ 76-80.). Im Abschnitt „Zur Stellung der §§ im Gesetzeszusammenhang“ konnte ich meine Erfahrungen mit Frauen im Strafvollzug einbringen. Ich war schockiert: Frauen hatten im neuen StVollzG nur als biologische Mutter in Bezug auf Geburt und Aufzucht der Kinder Beachtung gefunden. Große Defizite bei Arbeits- und Fortbildungsmöglichkeiten im Vergleich zum Männer-Vollzug hätten dringend kompensatorische Regelungen erforderlich gemacht. Zum Erhalt der traditionellen Frauenrolle sollte Müttern Freigang zur Versorgung ihres Haushaltes und ihrer Kinder gewährt werden.

Besonders irritierend fand ich die Regelung über die Aufnahme noch nicht schulpflichtiger Kinder im Frauen-Vollzug. Das begrüßenswerte Konzept für die Aufnahme von Kindern zu ihren inhaftierten Müttern wurde nach sorgfältiger Vorbereitung von der Direktorin Helga Einsele im Frauengefängnis Frankfurt-Preungesheim etabliert. § 80 StVollzG vernachlässigte dann aber vollkommen die Rechte von Kindern als eigene Träger von Grundrechten: Mit der Bindung an ihre Kinder sollte laut Regierungsentwurf zum Gesetz eine Sozialisation der inhaftierten Frauen angestrebt werden. Der Vorschlag die anstaltsinternen Kinderheime unter Aufsicht von Jugendämtern zu stellen, war von der Strafvollzugskommission abgelehnt worden.[61]

Für die 6. Konferenz der European Group for the Study of Deviance and Social Control 1976 in Bremen verfasste ich ein Diskussionspapier zu einer Soziologie von Terroristinnen. Darin befasste ich mich mit der politisch aktuellen Frage, wieso in der BRD zwischen 1966 und 1976 mehr als 60% der Terroranschläge von Frauen ausgeführt worden waren und welche alltagstheoretischen und wissenschaftlichen Erklärungsmuster dafür kursierten. (Die „übliche“ Kriminalitätsrat von Frauen im Vergleich zu Männern liegt bei 10%). Einige Autoren versuchten, aus der individuellen Biographie der Terroristinnen Schlüsse zu ziehen (persönliche Disposition zur Gewalt, psychische Störungen, Fidelio-Komplex…). Andere suchten Gründe in geschlechtlichen Anlagen, besonderes Gewicht wird hier auf angeblich abweichende sexuelle Naturen bzw. Anomalien gelegt. Die dritte Gruppe diffamierte die Frauenbewegung als Ursprung des Bösen. Terroristinnen galten ihnen als Vorkämpferinnen für ein künftiges Matriarchat oder als „phallisch“ motivierte Ersatzhandelnde. Alle Begründungsmuster hatten gemeinsam, dass sie politische Handlungsziele vollkommen ignorierten.[62]

Dieser Artikel brachte mir überraschende Akzeptanz durch männlich-wissenschaftliche Autorität: Professor Fritz Sack, mein früherer Chef an der TU Hannover, erstellte 1979 für meine Bewerbung auf eine sozialpädagogische Professur ein erstaunliches Gutachten. Darin charakterisierte er meine bisherige wissenschaftliche Karriere u.a. dadurch, dass ich mir Arbeitsfelder suche, auf denen Wissenschaft dem Text und der Herausforderung ausgesetzt würde, sich bei der Lösung sozialer Probleme und der Veränderung gesellschaftlicher Praxis bewähren zu müssen. […] Wie jeder erfahrene Sozialwissenschaftler wisse, sei eine solche wissenschaftliche Orientierung theoretischer und methodischer Art einem erhöhten Risiko ausgesetzt. Es sei ein professionell und wissenschaftlich schmaler Grat, auf dem derjenige wandelt, der die Nähe […] zu seinem Gegenstand suche und sich nicht in das schützende Gehäuse einer Theorie begebe. Bei Kenntnis dieses Risikos bringe dies jedoch durchaus Gewinn für die Ergebnisse und Befunde wissenschaftlicher Arbeit.

Die gesellschaftliche Praxis war an Ergebnissen interdisziplinärer Arbeit in der einstufigen Juristenausbildung aus meiner weiblichen Sicht offensichtlich interessiert. Ich wurde zu vielen Fortbildungsveranstaltungen als Vortragende eingeladen: Zu kriminologischen Themen u.a. in Niedersachsen für Schöffen, Beamte des mittleren und gehobenen Dienstes der Polizei und Lehrkräfte des Schulaufsichtskreises Celle; zum Thema Extremismus für Mitarbeiterinnen von Frauenverbänden und Frauenarbeitskreisen von der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung und sogar vom Bundeskriminalamt in Wiesbaden.

Von großem Interesse der juristischen Praxis an ihren Themen und Absolventen berichten auch Mitglieder des Fachbereichs Rechtswissenschaften II der Universität Hamburg in ihrem Erfahrungsbericht aus der einstufigen Juristenausbildung. Trotzdem mussten sie erleben, „wie die Einstufige Juristenausbildung als ein erfolgreiches und zukunftsträchtiges Modell der Ausbildungsreform ohne Not und ohne gründliche Evaluation abgeschafft wurde – je nach Temperament mit Ärger, Sarkasmus oder gar Zynismus…“ so der spätere Innenminister des Landes Schleswig Holstein, Hans-Peter Bull.[63] Mit einer Änderung von §5d des Deutschen Richtergesetzes wurde 1984 die zweistufige Juristenausbildung wieder verbindlich vorgeschrieben und die einstufigen Reformausbildungen mussten bundesweit abgeschafft werden, nachdem 11 Juristen-Jahrgänge eine einstufige Ausbildung durchlaufen hatten.[64]

 

9. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort

Ich hatte das Glück, nahe oder beteiligte Zeitzeugin gesellschaftlicher Veränderungen gewesen zu sein, die mir unerwartete Möglichkeiten geboten haben. An erster Stelle ist die deutsche Wiedervereinigung zu nennen. Einige meiner Karriereschritte nach 1989 verdanke ich der Tatsache, dass sich mittlerweile Frauen in maßgebenden Positionen befanden, die sich der bisherigen Ausgrenzung von Frauen aus dem Wissenschaftsbetrieb und der Politik bewusst geworden waren. Sie waren das oft gehörte Argument leid, es gäbe ja keine geeigneten Frauen für bestimmte Positionen. Stattdessen machten sie sich auf gezielte Suche nach qualifizierten Frauen.

 

Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik Berlin

1978 ging ich als Professorin für das Fach Sozialpädagogik zurück nach Berlin – an die heutige Alice-Salomon-Hochschule. Mit der Rufannahme habe ich lange gezögert. Emotional fürchtete ich mich vor der damals herrschenden Betroffenheits-Erwartung in sozialen Fragen. Ich wusste, dass in dieser frühen Phase der Fachhochschulen bei einer Lehrverpflichtung von 18 Stunden Forschung nur in sehr geringem Rahmen möglich sein würde. Ich hatte mein bisheriges Arbeitsgebiet Geschlechterforschung im Recht und Kriminologie lieb gewonnen, aber keine künftigen Berufsaussichten an Rechtsfakultäten der Universitäten in diesem Fach gesehen. Die einphasige Juristenausbildung war schon zu meiner Zeit dort in der juristisch-konservativen Fachöffentlichkeit umstritten.

An der ehemaligen Wirkungsstätte von Alice Salomon – der Begründerin der professionellen sozialen Frauenarbeit in Deutschland – empfingen mich dann unerwartet Spuren und der Geist der ersten deutschen Frauenbewegung. Ein Gebäude der FHHS hatte Alice Salomon für die von ihr 1908 gegründete „ Schule für soziale Arbeit“ ohne Baugenehmigung errichten lassen; hier hatte sich einige Jahre lang die Geschäftsstelle des Bundes Deutscher Frauenvereine befunden. Meine männlichen Kollegen hatten das lange verschollene Manuskript der Autobiographie Salomons ausfindig gemacht und 1983 veröffentlicht: „Charakter ist Schicksal, Lebenserinnerungen“ (Beltz).

Ich habe diese Hinwendung zur Vergangenheit der Frauenbewegung gerne angenommen und in meinem ersten Forschungssemester nach drei Jahren Auffassungen Salomons zur weiblichen Wohlfahrtspflege der heutigen feministischen Sozialarbeit gegenüberstellen können.[65]

1986 bis 1990 hatte ich dort das Amt der Rektorin inne. Zusammen mit Christine Labontè als Vize-Rektorin waren wir das erste weibliche Führungsduo einer Berliner Hochschule. Wir konnten mit Hilfe von neu aufgelegten Frauenförderprogrammen für Fachhochschulen des Berliner Senates weibliche Akzente setzen, z.B. durch die Einrichtung von zwei Professuren mit explizit auf die Situation von Frauen bezogenen Denominationen. Im aufgeschlossenen, frauenfreundlichen Klima der neu gegründeten Fachhochschulen gelang es sogar, das Berliner Treffen der bundesdeutschen Fachhochschul-Rektorenkonferenz im März 1990 unter das Motto „Fachhochschulen – eine Männergesellschaft ?“ zu stellen.

Auf eine Wiederwahl habe ich dennoch verzichtet. Die Zusammenarbeit im Frauenrektorat stellte sich als schwierig heraus. Auf uns lastete hoher Erfolgsdruck. Wir konkurrierten stark miteinander. Für eine weitere Amtsperiode konnte ich mir die Fortsetzung unseres Frauenrektorates nicht vorstellen. Ich stellte in der Vorbereitungsphase für die zweite Amtszeit unsere Hochschullehrergruppe vor die Wahl zwischen uns beiden. Ich hatte vorab versäumt, Mehrheiten für mich zu organisieren und verlor die Abstimmung gegen Christine knapp. Darüber hinaus wünschte ich mir mehr Zeit zum forschen und wissenschaftlichen Austausch mit Kollegen und ich hatte mein Interesse an der Wissenschafts-Politik entdeckt.

 

Abgeordnetenhaus von Berlin

1985 war ich in die Berliner „Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz“(AL) eingetreten. 1989 gab es in Berlin die erste deutsche grün-rote Regierung mit drei parteilosen Senatorinnen unter Walter Momper, die bereits im Überschwang der Wiedervereinigung 1990 ein Ende fand. Neuwahlen wurden notwendig, die AL musste wieder in die Opposition. Die Parteisatzung sah für Kandidatenaufstellungen eine 50%ige Frauenquote sowie das Rotationsprinzip vor, d.h. einen Wechsel der Abgeordneten zur Hälfte der Legislaturperiode. Die grüne Abgeordnete Hilde Schramm schlug mich 1991 als ihre Nachfolgerin vor. Ich wurde auf einem der letzten Plätze (Platz 29?) der langen Liste gewählt. Mit hälftig reduzierter Stundenzahl als Professorin wurde ich Abgeordnete in der aus West- und Ostmitgliedern bestehenden Fraktion.

Helmholtz Denkmal vor der HUB
Das Patriarchat wird enthüllt – Helmholtz-Denkmal vor der H.U. Berlin 1994

….

Humboldt-Universität zu Berlin

Der seit der Wende in der HUB amtierende Rektor Fink wurde 1991/92 wegen Tätigkeit für die Staatssicherheit, insbesondere politisch motivierter Relegation von Studierenden in seiner früheren Eigenschaft als Dekan der theologischen Fakultät seines Amtes enthoben. Die Universität öffnete sich mit der Einführung einer Präsidialverfassung für auswärtige Bewerber und Bewerberinnen. Ich wusste durch meine Tätigkeit als stellvertretende Sprecherin des Wissenschaftsausschusses im Berliner Abgeordnetenhaus, dass schwierige Zeiten auf die Universität zukommen würden. Warum habe ich mir dennoch ohne eigene Lobby eine Bewerbung für das Präsidentenamt angetan?

Männliche Bewerber – einige unter ihnen ausgewiesene West-Rektoren oder Präsidenten – zogen ihre Bewerbung zurück. Sie haben entweder die anstehenden Aufgaben als zu schwierig eingeschätzt, Niederlagen durch das auch mit Ost-Kollegen besetzte, unberechenbare Konzil befürchtet oder sie wollten als SPD-Mitglieder dem früheren Berliner SPD-Wissenschaftssenator Glotz keine Konkurrenz machen.

Vorhergehende Besuche in der Universität hatten mich sehr berührt. Ich wanderte durch seit Kriegsende offensichtlich nicht sanierte Gebäude. Vorbei an einsamen Gipsbüsten und Skulpturen, dem großen steinernen Löwen fehlte ein Fuß , es roch nach dem in der DDR unvermeidlichen Reinigungsmittel. Dennoch schien mir, als würde hinter der nächsten Ecke sogleich ein Geist hervortreten, der Geist in der Nazizeit verlorener Kultur. Der Verlust wissenschaftlicher Traditionen in unseren kahlen westdeutschen Universitäten wurde mir schmerzlich bewusst.

Ich beschloss, mich auf die Stelle der Präsidentin zu bewerben. Schon im ersten Wahlgang gegen Peter Glotz bekam ich im Konzil die absolute Mehrheit und war zu meiner eigenen Überraschung nach einer langen Reihe berühmter Vorgänger als erste Frau an die Spitze der HUB gewählt. Die Medienaufmerksamkeit war groß, Journalisten hatten Wetten abgeschlossen, ARD und ZDF berichteten in den Abendnachrichten.

Körbeweise trafen Glückwünsche aus West und Ost ein. Besonders bewegt haben mich drei Briefe : Sigrid Damm-Rüger, die frühe Tomatenwerferin im SDS, freute sich sehr darüber, dass sich ihrer Meinung nach nun ein Kreis im positiven Sinne geschlossen hätte. Eine wissenschaftliche Mitarbeiterin der HUB hatte mich vor ihren herzlichen Glückwünschen erst noch einmal auf einer Personalversammlung besichtigt. Der frühere Bremer Bürgermeister Hans Koschnick schrieb mir, er habe mit großem Respekt und stiller Bewunderung aus dem Fernsehen die Information zur Kenntnis genommen, dass ich auf Anhieb zur Präsidentin der HUB gewählt wurde und renommierte Männer aus ihren vermeintlich sicheren Bahnen geworfen hätte.

 

Koschnick gab mir Wichtiges mit auf den Weg : „Natürlich weiß ich, daß Sie sich damit ein schwieriges Stück Arbeit aufgeladen haben… Jedenfalls darf es an dieser Alma Mater keinen Kahlschlag, keine formale „Christenverfolgung“ geben. Man mag zur untergegangenen DDR stehen, wie man will, aber zu leugnen, daß es auch dort qualifizierte Wissenschaftler (und das gilt auch für die Humboldt Universität ) gegeben hat, ist schlichtweg hirnrissig. Daß eine solche Position einigen Wessis und Ossis nicht schmeckt, weiß ich, das ändert aber nichts an der belegbaren Wahrheit. Tragen Sie also guten Mutes den auf Sie zukommenden Ärger und bleiben Sie mir gewogen…“.

Der Ärger ließ nicht lange auf sich warten. Eine Frau mit roten Haaren, Professorin einer Fachhochschule für Sozialarbeit und Mitglied der grünen Oppositionspartei , war offensichtlich die geeignete Projektionsfigur für die Abbildung der aufgetretenen Konflikte. Und davon gab es unendlich viele.

Ein Hauptproblem war der ungeheure Zeitdruck. Die Umwandlung der HUB in eine Universität nach westlichem Muster geschah in denkbar knapper Zeit. Schon 1992 kamen erste Klagen dahingehend, die Veränderungen gingen nicht voran, die Vergangenheitsbewältigung lasse sehr zu wünschen übrig. Peer Pasternack beschreibt die Eile des ostdeutschen Hochschulumbaus zutreffend: „Der politische Systemwandel in Ostdeutschland mußte… in einer Geschwindigkeit durchgeführt werden, in der ein solcher üblicherweise nur durch gewalttätige Revolutionen gelingen kann. Zugleich aber konnte nicht auf das Arsenal gewalttätiger revolutionärer Elemente zurückgegriffen werden.
Kurz : In revolutionärer Geschwindigkeit war ein evolutionärer Wechsel durchzusetzen.“[66]

 

Meine vier schwierigen Amtsjahre waren geprägt durch den wieder aufgeflammten, beinharten Kalten Krieg zwischen Vertretern des Ost- und Westteils der Stadt.Die ideologischen Gräben zwischen Ost und West waren tiefer als erwartet. Die DDR war bankrott, West-Berlin wurde umgehend die 50%ige Subventionierung des Berliner Landeshaushaltes durch den Bund gestrichen, obwohl die Aufgaben sich verdoppelt hatten. Geldmangel verschärfte Konkurrenzen zwischen den Hochschulen. Spätere Beschreibungen der Vorgänge in dieser Zeit[67] stellen Fakten und Folgen des Beitritts der DDR für die Universität zutreffend dar, vermögen aber den unendlichen Druck nicht abzubilden, der auf allen Beteiligten lastete.

Welche westdeutsche Universität hatte je ein solches Arbeitspensum bei laufendem Betrieb zu bewältigen? Die „Abwicklung“ des Universitätspersonals (inklusive Charité) erfolgte durch rund 3500 Kündigungen; über 320 Neuberufungen fanden statt; 380 Stasi-Erkenntnisfälle wurden überprüft; 130 Studien-und Prüfungsordnung waren zu beschließen. Ost-Mitarbeitern der Verwaltung wurde nicht gekündigt und sie mussten in einen neuen Stellenplan nach West-Tarifen eingestuft werden. Aus 21 Sektionen und Fachbereichen wurden (einstimmig) in nur zwei Senatssitzungen 11 Fakultäten. 10 Fusionen mit anderen Berliner Hochschulen waren zu organisieren. 25 Studiengänge wurden geschlossen, die davon betroffenen Studierenden wurden bis ihrem Abschluss neben dem neuen Studienangebot ohne zusätzliche Mittel ausgebildet. Um zwei Bereiche wurde heftig gerungen; hierzu gab es von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Universität öffentliche Demonstrationen: Der Wille von Wissenschaftssenators Erhard (CDU), die Charité zu erhalten statt diese – wie in Westberlin diskutiert wurde – in ein Medizinmuseum umzuwandeln, führte zu harten Auseinandersetzungen mit Berliner CDU-Lokalpolitikern. Diese fürchteten um den Bestand der beiden Universitäts-Klinika im Westteil der Stadt. Die spätere Landwirtschaftlich- Gärtnerische Fakultät wurde schließlich nach einer Drohung des Vorsitzenden des Bauernverbandes nicht geschlossen: „Entweder die Fakultät bleibt erhalten oder die Grüne Woche wandert ab aus Berlin.“

Die strukturellen Voraussetzungen für den beschriebenen Umbau der Universität waren komplex: Der Wissenschaftsrat hatte 32 mit mehrheitlich westdeutschen männlichen Professoren besetzte Struktur- und Berufungskommissionen für die einzelnen Facher bestellt, auf Fachreichsebene trafen Personalkommissionen Entscheidungen über Strukturen sowie Entlassung oder Verbleib Universitätsangehöriger, die zentrale Personalkommission hatte mit Beteiligung von drei Senatsverwaltungen weitgehende Befugnisse.

Aus meiner heutigen Sicht befand sich die Humboldt-Universität, wenn nicht gar Berlin als Ganzes, im Klima eines kollektiven Traumas. Ende 1993 konnten vor Ablauf der Frist im Einigungsvertrag für 1106 Mittelbaustellen 399 Kündigungen und Befristungen  nicht rechtzeitig ausgesprochen werden. Berliner Politiker, die Presse und, wenn auch nicht offen, westliche HUB-Kollegen forderten meinen Rücktritt und Regress in zweistelliger Millionenhöhe. Nach einjähriger, beamtenrechtlicher Ermittlung konnte keine disziplinarrechtlich relevante Amtspflichtverletzung der Präsidentin festgestellt werden.

Wir befanden uns mitten im Chaos, von dem alle Fakultäten und Tausende von Menschen betroffen waren. Wir zerstörten Arbeits- und Lebenszusammenhänge. Die DDR gab es nicht mehr. Wir hatten den Entlassenen keine Perspektive zu bieten. Im Rückblick hat die hitzige öffentliche Debatte über nicht vollzogene Kündigungen die große Zahl der Entlassungen vollkommen in den Hintergrund treten lassen.[68]

Ein Frau präsidiert die deutsche Rektorenkonferenz 1993, Foto: Waltraut Harre

In Bezug auf meine Frauenrolle machte ich neue Erfahrungen. Sehr überraschend für mich war, wie respektvoll Ost-Kollegen im Gegensatz zu manchen Professoren und Politikern aus dem Westen mit mir umgingen. Deren Herablassung war den Ost-Männern trotz ihrer schwächeren Verhandlungs-Position im Abwicklungsprozess fremd. Außerdem lernte ich, dass auf jeder weiblichen Karrierestufe andere Formen von Sexismus wirksam werden. Der Präsidentin greift Mann nicht an den Busen, er erlaubt sich höchstens ein süffisantes Lächeln. Da werden wohl Gerüchte über ein angebliches Verhältnis mit dem Vizepräsidenten gestreut – doch besser noch wendet Mann sich an die Bild-Zeitung oder den Wissenschaftsredakteur der FAZ. Diese erledigen dann gekonnt Herabwürdigung mit guter Breitenwirkung. Ich unterlasse die namentliche Erwähnung nicht weniger Männer, die mir in oder sogar über meine Amtszeit hinaus übel mitgespielt oder es an Loyalität haben fehlen lassen. Ist nicht mein Stil.

Auf die Entwicklung des Frauenanteils in den verschiedenen Statusgruppen im Verlauf der universitären Umstrukturierung kann ich hier nicht im Einzelnen eingehen, es gibt sehr detaillierte statistische Angaben in meinem Rechenschaftsbericht (1992 bis 1995, vorgelegt dem Konzil im Januar 1996, S.99-106). Beispielhaft weise ich darauf hin, dass nur wenige der früheren 188 Professorinnen und Dozentinnen den Sprung auf eine der neuen Professorenstellen geschafft haben. Allerdings haben schon einige Monate nach dem Mauerfall Humboldt-Frauen mit der der Gründung des Zentrums für interdisziplinäre Frauenforschung – unbeachtet von der aufgeregten Öffentlichkeit – einen wichtigen frauenpolitischen Pflock eingeschlagen. Damit war die Grundlage für das 2003 eröffnete Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien und dem späteren ersten deutschen, noch heute gut nachgefragten, Masterstudiengang „Gender Studies“ geschaffen. Mein struktureller Beitrag zur Frauen-Förderung bestand vor allem darin, acht offene, durch mich zu definierende Professorenstellen in einer Ausschreibung den Fakultäten für Frauenforschungsprofessuren anzubieten.

Seit Ende 1995 dachte ich daran, nicht für eine weitere Amtszeit zu kandidieren. Konflikte und Arbeitsüberlastung forderten ihren Preis: Ich wurde krank. Außerdem gelang mir die bis dahin geübte, nicht-polarisierende Haltung zwischen Ost und West nicht mehr. Ich war endgültig zwischen die Fronten vermeintlicher westlicher Gewinner und vermeintlicher bzw. wirklicher Ost-Verlierer geraten. Die Situation der Universität war geprägt von ständiger Unsicherheit aufgrund des nicht ausfinanzierten Personalhaushaltes, neuen Sparvorgaben und der dauerhaften Absenkung des Haushaltes im Rahmen einer pauschalen Minderausgabe. Im Mai 1996 wurde gar durch den SPD-Fraktionschef die Forderung nach Zusammenlegung der drei Berliner Universitäten erhoben.

Meine endgültige Entscheidung, auf eine neue Kandidatur zu verzichten, habe ich am 29.Januar 1996 während einer Veranstaltung zur Feier des 50ten Jahrestages der Wiedereröffnung der Berliner Universität getroffen. Wir hatten rund 100 ehemalige Studierende aus dieser Zeit wiedergefunden und mit ihren Partnern eingeladen. Ein Grußwort hielt der Präsident der Freien Universität. Diese war 1948 im Westteil der Stadt auf Initiative von Studierenden wegen Eingriffe der sowjetischen Besatzungsmacht in die alte Berliner Universität gegründet worden.

Eine große Gruppe Studierender hatte sich protestierend zunächst vor der Universität und dann in der Aula versammelt. Sie wandten sich gegen neue Sparbeschlüsse der Berliner Regierung, die durch den Regierenden Bürgermeister Diepgen vertreten war. Sie störten die Fest-Redner, bauten sich mit ihren Transparenten vor dem Rednerpult auf. Erstaunlicherweise protestierten nun die „alten“ studentischen Kämpfer der ersten Stunde nach 1946 heftig gegen die Störung der Veranstaltung. Das störte die Jungen nicht, sie hielten weiterhin ihre Transparente in die Höhe.

Als Festredner hatte ich Prof. Ernst Benda gebeten, den ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgericht. Er hatte zu denjenigen gehört, die als damalige Humboldt-Studenten die Gründung der Freien Universität im Westteil der Stadt betrieben hatten. Benda berichtete ruhig ,sachlich, anschaulich über die Eingriffe der sowjetischen Besatzungsmacht, die Relegation und Deportation von protestierenden Studenten sowie über ihren damaligen dringenden Wunsch nach Freiheit von Lehre und Forschung. Die jungen Protestierer wurden still, hörten Benda aufmerksam zu und rollten schließlich ihre Transparente ein. Da wusste ich, mit der Humboldt-Universität würde es gut weiter gehen.

Am nächsten Morgen teilte ich in der Leitungssitzung meinen Entschluss mit, nicht für eine weitere Amtszeit anzutreten. Ab September 1996 bis zum 31.12.1997 war ich als HUB-Universitätsprofessorin im Seminar für Kulturwissenschaften tätig.

 

Senat der Freien und Hansestadt Hamburg

1997 bekam auch Hamburg seine erste rot-grüne, paritätisch besetzte Regierung. Die Senatorin Krista Sager war auf der Suche nach einer grünen Staatsrätin für das Ressort „Wissenschaft und Forschung“ und das Senatsamt für Gleichstellung. Mit dem traditionellen Neujahrsempfang des Ersten Bürgermeisters Runde und der Zweiten Bürgermeisterin Sager für Bürger und Bürgerinnen im Hamburger Rathaus begann am 1.1.1998 meine Tätigkeit. Ich war froh, dem rauen Berliner Klima entkommen zu sein.

Schon 20 Jahre früher, zum 1. Januar 1979 war die „Leitstelle für die Verwirklichung der Gleichstellung der Frau“ durch den Senat der FHH als erste Einrichtung dieser Art gegründet und als Dienststelle der Senatskanzlei dem Bürgermeister direkt zugeordnet worden. Die Leitstelle war in den Jahren nach ihrer Gründung eng mit Aktivitäten der Hamburger Frauenbewegung, den Frauenprojekten und Frauenverbänden verbunden.

Die Leitstellenfrauen wagten sich als erste in der Bundesrepublik an das schwierige Geschäft der Gesetzgebung. Bei der Vorbereitung für das 1992 erlassene „Gesetz zur Gleichstellung von Frau und Mann im öffentlichen Dienst“ baten sie den früheren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes, Ernst Benda, um Hilfe. Er sollte prüfen, „ob der Staat einen Verfassungsauftrag hat, festgestellte Benachteiligungen der Angehörigen eines Geschlechts durch positive Fördermaßnahmen auszugleichen“. Benda unterstützte die Frauen, setzte am Sozialstaatsprinzip an und plädierte in seinem für die Entwicklung der Frauenförderung in der gesamten Bundesrepublik wegweisenden Bericht für eine leistungsbezogene Quote.[69]

Unsere Gleichstellungspolitik umfasste ein breites Spektrum. Ein wesentlicher Punkt in der rot-grünen Koalitionsvereinbarung zur Gleichstellung von Schwulen und Lesben wurde sehr schnell umgesetzt: In Hamburg konnten sich erstmals in der BRD gleichgeschlechtliche Paare auf Hamburger Standesämtern eintragen lassen. Weitere Themen im Jahr 2001 waren z.B. Frauen in der Informationsgesellschaft, Gewaltprävention, Frauenhandel, Konfliktverhalten von Jungen und Mädchen, Migrantinnen, Töchtertag, Verantwortung von Vätern (…).[70]

Wir waren Gastgeberinnen der Virtuellen Internationalen Frauenuniversität „vifu“, einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung für 2 Jahre geförderten Projekt zur Vorbereitung einer Internationalen Frauenuniversität „Technik und Kultur“. Diese fand drei Monate lang an vier Hochschulstandorten statt (Berlin, Hamburg, Hannover und Hildesheim). Thema waren Entwicklung und Anwendung neuer Technologien, die Projekte wurden überwiegend in der Informatik angesiedelt.[71]

Frauenpolitik muss Strukturpolitik sein. Dieses Prinzip hat Krista Sager für unser Ressort Wissenschaftspolitik angewandt. Hamburg hat als erstes Bundesland unter Rot-Grün die Leistungsbezogene Mittelvergabe sowie Globalhaushalte für die Hochschulen eingeführt. In einem hochschulübergreifenden Modell zur Mittelvergabe wurden 10 Leistungsindikatoren festgelegt. Ein Indikator, mit dem die Hochschulen finanziell belohnt oder bestraft werden konnten, waren Maßnahmen zur Frauenförderung.

Zweimal versuchten wir, mit dem Vorschlag eines Gremienbesetzungsgesetzes die Basis für eine stärkere Beteiligung von Frauen in staatlichen Hamburger Gremien zu schaffen. Beim ersten Mal scheiterte ich bereits in der Senatsvorlagen vorbereitenden Staatsräte-Runde. Ein zweiter Versuch für die hälftige Besetzung staatlicher Gremien jeweils mit Frauen und Männern auf Grundlage eines Gutachtens der Rechtsprofessorin Heide Pfarr schaffte es immerhin bis in den Wissenschaftsausschuss der Hamburger Bürgerschaft. So wichtig und wirksam solche Gesetzesänderungen für die Situation von Frauen sind – sie versprühen wenig Eros im Geschlechterkampf und sind der Frauen-Öffentlichkeit schwer als Erfolge zu verkaufen.

Dann kam es im September 2001 zu den 9/11 Terroranschlägen in den USA. Mehrere der Terroristen wurden schnell als Hamburger Studierende enttarnt. Die gut eine Woche später stattfindende Bürgerschaftswahl brachte das Ende der Rot-Grünen Regierungskoalition und damit meiner Tätigkeit als Staatsrätin.

 

Einstweiliger Ruhestand

Mein Status als politische Beamtin sah eine vorläufige Versetzung in den Ruhestand vor, bei grün-politischem Bedarf hätte ich als Staatsrätin bis zum Pensionsalter reanimiert werden können.

Fast ein Jahrzehnt hatte Arbeit und politisches Engagement im Mittelpunkt meines Lebens gestanden – mit streng getaktetem Alltag, einschließlich der Wochenenden. Nun musste ich wieder ein Leben ohne Termine und Stress lernen. Ich fing mit Wochenplänen an wie: Montag kaufe ich einen neuen Staubsauger, Dienstag trinke ich Kaffee im Buchladen, Mittwoch hat vielleicht meine Freundin Zeit…

Ich wandte mich wieder meiner spirituellen Seite zu. 1990 hatte ich an einem Sommertag den Zen-Buddhismus für mich entdeckt. Im Berliner U-Bahnhof „Rüdesheimer Platz“ hing ein DIA-4 Plakat der Association Zen Internationale, das zu Sesshins in einem Dojo (Tempel) in der Nähe von Blois, Frankreich einlud. Ich machte mich umgehend auf die Reise und besuchte in den folgenden Jahren immer wieder die Gendronnière. Nach erneuter, unregelmäßiger Praxis absolvierte ich 2009 die Zeremonie zum Bodhisattva.

Mit meiner Hinwendung zu einer der großen Weltreligionen hatte ich Bekanntschaft mit einem mir bis dahin nicht vorstellbaren, ungebrochenen Patriarchat gemacht. Meine anfängliche weibliche Rebellion verpuffte während der 1000 Jahre alten Zeremonien, der Ästhetik von Disziplin und Einfachheit sowie der Erfahrung, in die Unbeständigkeit der Welt eingebunden sein. Bei einem USA-Besuch stellte ich fest, dass amerikanische Buddhistinnen sich schon seit einiger Zeit mit der patriarchalischen Geschichte des Buddhismus beschäftigten und dass es einen von Charlotte Joko Beck geleiteten Tempel in Los Angeles gab.[72]

 

Nach längerer Zeit ohne rechte Orientierung wurde ich wieder gesellschaftlich aktiv. Ich nahm einen zweijährigen Lehrauftrag in dem MBA-Studiengang Bildungsmanagement zum Thema „Bildungspolitik und Bildungsrecht“ an der Oldenburger Universität an. Einige Ehrenämter kamen hinzu, u.a.die Tätigkeit als Karriereberaterin für jüngere Frauen im Hamburger Expertinnen-Beratungsnetz, die mir bis heute besonders viel bedeutet.

Seit 2003 engagierte ich mich in verschiedenen Funktionen wieder in grüner Parteipolitik – als Beisitzerin im Landesvorstand, Sprecherin der Landesarbeitsgemeinschaft Frauenpolitik und als Gründerin einer Gruppe „Grüne Alte“, die sich bis in die Gegenwart nicht adäquat in der Partei etablieren konnte. Unser neues demographisches Modell sah auf Landesebene Gleichstellung mit der Satzung unserer „Grünen Jugend“ vor. Wir konnten uns trotz jugendlicher Unterstützung nicht gegen den Bundesvorstand durchsetzen. Gegenargumente erinnerten mich an die Frühzeit der Frauenbewegung, z.B. die ständige Frage „Warum wollen sich ältere Parteimitglieder separat organisieren ?“

Gern habe ich mich damals in der kleinen Ferienwohnung aufgehalten, die ich zu Beginn meiner Hamburger Tätigkeit in einem 25o Jahre alten Reetdachhaus in Wasserkoog auf der Halbinsel Eiderstedt gemietet hatte. In der Galerie von Freunden kam dort die Liebe in mein Leben zurück – in Gestalt meines späteren Ehemannes Bernd Leptihn.

 

Universitätsrat der Universität Wien

Im Jahre 2008 erreichte mich ein überraschender Anruf : Ein Senatsmitglied der Wiener Universität hatte mir die mögliche Mitgliedschaft im dortigen Universitätsrat angetragen.

Ich machte mich kundig und staunte. In zwanzig Jahren deutscher Hochschulpolitik hatte ich mich über allzu viel Halbherziges und Reformunwilligkeiten geärgert. Als Präsidentin der Humboldt-Universität habe ich nach der Wende daran mitwirkt, dieser in kürzester Zeit die längst überholte West-Struktur von Hochschulen aufzuzwingen. Die Föderalismus-Reform mit einer entsprechenden Grundgesetzänderung von 2006 hat deutsche Hochschulen in die Kleinstaaterei von 16 Bundesländern zurück versetzt. Und plötzlich gab es da in Österreich eine andere Universität, eine wirklich autonome und frauenfreundliche.

Christoph Gnant bezeichnet die österreichische Universitätsreform 2002 als ein Resultat der in ganz Europa intensiv geführten Debatte um die zweckmäßige Organisationsform von grundsätzlich staatlich finanzierten Universitäten im 21. Jahrhundert. Verglichen mit ihrer 650jährigen Geschichte hat die „Alma Mater Rudolphina“ innerhalb von nur zwei Jahrzehnten gravierende Veränderungen erfahren, die das Verhältnis von Universität und Staat revolutionierten. Mit dem Universitätsgesetz von 2002 erhielt die Universität die Vollrechtsfähigkeit. Die staatliche Finanzierung beruht auf einer jeweils dreijährigen Leistungsvereinbarung mit der Republik Österreich. Die Autonomie der österreichischen Universitäten ist im Bundes-Verfassungsgesetz abgesichert. Sie umfasst u.a. strukturelle, personelle und organisatorische Unabhängigkeit. Die Arbeitsverhältnisse aller Bediensteten unterliegen jetzt dem allgemeinen österreichischem Arbeitsrecht auf der Basis von Tarifverträgen zwischen Universität und Beschäftigten. An die Stelle überholter Kameralistik ist moderne, von Wirtschaftsprüfern kontrollierte, Haushaltsführung getreten.[73]

Das Universitätsgesetz (UG) von 2002 sieht vier oberste Leitorgane vor: Universitätsrat, Rektorat, Rektor und Senat. Vier Mitglieder des Universitätsrates der Wiener Universität werden von der Bundesregierung berufen, vier weitere vom Senat gewählt. Das neunte Mitglied können die Ratsmitglieder selber benennen. Ein wichtiges Novum : Um politischen Einfluss zu begrenzen, sieht das UG eine vierjährige Pause zwischen politischer Tätigkeit und Mitgliedschaft im Universitätsrat vor. Der Wiener Universitäts-Senat hat in den ersten drei Funktionsperioden Wissenschaftler aus dem deutschsprachigen Ausland favorisiert. Ich wurde 2008 nach einem Vorstellungsgespräch für die 2. Funktionsperiode gewählt. Nach fünf Jahren wurde ich für eine weitere Periode bis 2018 von Vertretern aller Funktionsgruppen bestätigt.

Als leidgeprüfte Frauenpolitikerin hat mich immer wieder die Selbstverständlichkeit beeindruckt, mit der Kolleginnen in der Wiener Universität agieren und in Gremien Frauen betreffende Angelegenheiten behandelt werden. Kein Wunder: Wie die Autonomie-Garantie in der Bundes-Verfassung bietet das Universitätsgesetz von 2002 in der Geschlechterfrage einen relativ sicheren Handlungsrahmen. Grundsätzlich gilt das im 3.Absatz verankerte und ausführlich geregelte Frauenfördergebot sowohl als Zielwert wie bei Personaleinstellungen. Für alle Kollegialorgane – also auch für den Universitätsrat – ist eine Frauenquote von mindestens 50% vorgeschrieben. Kontroll- und Beschwerdewege sind gesetzlich festgelegt, ebenso die Beteiligungsmöglichkeiten vom Arbeitskreis für Gleichstellungsfragen bis hin zu den Pflichten des zuständigen Bundesministeriums. Zeitnah überprüft darüber hinaus der oberste Bundesrechnungshof die Einhaltung der Quoten-Regelungen.

Natürlich bleibt in Fragen der Gleichstellung von Frauen in österreichischen und deutschen Universitäten noch vieles zu tun. Es mag pathetisch klingen, doch für mich hat sich in meiner Wiener Tätigkeit ein Kreis geschlossen: Ausgerechnet die älteste deutschsprachige, jetzt 654 Jahre alte Universität Wien erweist sich in der Geschlechterpolitik als jung und wandlungsfähig. Es geht doch!

[1]      vgl. Frauenpolitik und politisches Wirken von Frauen im Berlin der Nachkriegszeit 1945 – 1949, Renate Genth u.a., Hrsg. Senatorin für Arbeit, Berufliche Bildung und Frauen, Berlin 1996

[2]      Süddeutsche Zeitung, Nr.125 vom 4.6.2018, Viel mehr als ein Aufstand, S.12

[3]      Ute Gerhard, Für eine andere Gerechtigkeit. Dimensionen feministischer Rechtskritik, Campus, Frankfurt/New York, 2018, S.19

[4]      vgl. Ute Gerhard, a.a.O., S.28 f.

[5]      Strobel/Schmirber Hrsg., Drei Jahrzehnte Umbruch der deutschen Universitäten, Abhandlungen zum Studenten- und Hochschulwesen, Nr.7, Hanns-Seidel-Stiftung, Greifswald 1996

[6]      Strobel, a.a.O., S.39/40

[7]      Orten, in Strobel/Schmirber Hrsg., a.a.O., S. 117

[8]      vgl. dazu auch Ute Gerhard, a.a.O., S.29

[9]      Notwendigkeit und Zulässigkeit positiver Aktionen zugunsten von Frauen im öffentlichen Dienst – Rechtsgutachten, erstellt im Auftrag der Senatskanzlei, Leitstelle Gleichstellung Frau der Freien und Hansestadt Hamburg

[10]    vgl. BLK Materialien, Materialien zur Bildungsplanung und zur Forschungsförderung, Heft 19, Förderung von Frauen im Bereich der Wissenschaft, 1989, Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung, S.20

[11]    Bärbel Rompeltien, Grundlagen der Frauenförderung an den Hochschulen, in: Hochschule im Umbruch, Zwischenbilanz Ost, Hrsg. Hilde Schramm im Auftrag der GEW, Berlin 1993, S.191f.

[12]    vgl. BLK, a.a.O., S.13

[13]    BLK, a.a.O., S. IX f.

[14]    www.rs-sidonien.de

[15]    Tieck Bücher, 6.Auflage Wien 1956

[16]    https://de.wikipedia.org/wiki/Braunschweig-Kolleg

[17]    https://de.wikipedia.org/wiki/kuppelei

[18]    Frauen und Wissenschaft – Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen, Juli 1976, Courage Verlag Berlin, S.45

[19]    https://de.wikipedia.org/wiki/Gesetz_gegen_die_Überfüllung_deutscher_Schulen_und_Hochschulen

[20]    Bildung in einer Welt der Umbrüche, 50 Jahre Erwachsenenbildung am Braunschweig-Kolleg, Hrsg. Verein der Freunde des Braunschweig-Kollegs, Braunschweig 1999, vgl. grob von mir geschätzt nach Absolventenzahlen und Vornamen der jeweiligen Jahrgänge

[21]    Zur Verschlechterung der Situation der Frau im Zweiten Bildungsweg, Frauen und Wissenschaft, a.a.O., Seite 29/32, und „Flugblatt zur Sommeruni“ im Anhang, S.399/401

[22]    vgl. Ralf Zünder, Studentendorf Schlachtensee, 1959-1989, Eine Dokumentation, Schriften zur Hochschul-Sozialpolitik Nr.1, Studentenwerk Berlin 1989

[23]    Auftragsarbeit für den WDR 1971, Über die Konflikthaftigkeit der Frauenrolle zwischen Arbeit und Privatleben, https://www.helke-sander.de/filme/

[24]    vgl. z.B. Ludwig von Friedeburg et.al. Freie Universität und politisches Potential der Studenten, Neuwied und Berlin, Luchterhand 1968

[25]    vgl. FU, Flugblatt Berlin-Dahlem 2.5.1967

[26]    Herbert Marcuse, Das Ende der Utopie, Verlag P. v. Maikowski, Berlin 1967

[27]    Studienplan für das Fach Soziologie, mschrftl. Manuskript, ohne Datum

[28]    aus: Selbstverständnis und Statut des Sozialistischen Frauenbunds Westberlin, ohne Jahr, mschrftl. vervielf. Papier

[29]    Der STERN, Heft 24, Jg. 1971

[30]    Dürkop, M., Rechtskompetenz von Frauen, Empirische Daten zur Aussageverweigerung in einem Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen § 218, in: Kriminologisches Journal 4/75, S. 305/10

[31]    v. Hodenberg, a.a.O., S.127

[32]    Cristina Perincioli, Berlin wird feministisch, Das Beste was von der 68er Bewegung blieb, Querverlag Berlin 2015, S. 149

[33]    vgl. Eröffnungsveranstaltung, Frauen und Wissenschaft, a.a.O., S. 9

[34]    James F. Tent, Freie Universität Berlin, 1948-1988, eine deutsche Hochschule im Zeitgeschehen, Colloquium Verlag Berlin, 1988, S. 159

[35]    James F. Tent, a.a.O, S. 183 f.

[36]    James F. Tent, a.a.O, S. 183 f.

[37]    vgl. Broschüre Kritische Universität der studenten, arbeiter & schüler, Hrsg. ASTA der Freien Universität Berlin, Politische Abteilung

[38]    Tent, S. 372/383

[39]    Rundschreiben an alle Dozenten einschließlich Lehrbeauftragte vom Fachbereich-Verwaltungsleiter Dr. Rüter mit Datum 10.1.1975

[40]    Kai. S. Cortina u.a., Hrsg., Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland, ein Bericht des Max-Planck-Institutes für Bildungsforschung, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Neuausgabe 2003, S.96 f.

[41]    Perincioli, a.a.O., S. 23-29

[42]    vgl. „Nebenwiderspruch“, Oktober 1975, S.20/21

[43]    Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 10.2.1973

[44] vgl. Begleitzeitschrift zur Ausstellung von Brigitte Mauch, Toja Wernery und Evelyn Kuwertz:  Zur Situation der Frau in Familie und Gesellschaft, o.Ort, o.Datum [1973], Kapitel „Herkömmliches Kunstverständnis, Auseinandersetzung mit den Professoren an unserer Schule“, S. 6. Ausstellung u.a. gezeigt im Frauenzentrum Berlin 1973. Siehe auch https://feministberlin.perincioli-projekte.de/kultur/kunstausstellungen/

[45]    https://wiki.studiumdigitale.unifrankfurt.de/SOZFRA/index.php/Deutsche_Gesellschaft_für_Soziologie_in_der_Nachkriegsperiode (abgerufen 2019)

[46]    Dokumentation der Tagung Frauenforschung in den Sozialwissenschaften, München, Hrsg. Arbeitskreis München, Okt. 78, S.1 f.

[47]    https://www.netzwerk-fgf.nrw.de/fileadmin/media/media-fgf/download/veranstaltungen/Festprogramm_40_Jahre_Frauen-_und_Geschlechterforschung_2019.pdf

[48]    Ein Handbuch der Gender-Theorien, UTB 2584, 2.Auflage,2009, S.9

[49]    Kritische Universität, a.a.O., S. 48 /75

[50]    Hartmut von Hentig, Das Verbrechen III, Berlin-Göttingen-Heidelberg 1963, Erstes Buch, S.21f.

[51]    Die Wiederkehr der Lust, Körperpolitik nach Foucault und Butler, Campus, Frankfurt/New York 2002, S.32

[52]    Studieninformation des Fachbereichs Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin, WS 1974/75, Hrsg. Ausbildungskommission des FB Rechtswissenschaft der FU Berlin, Verantwortlich Wiss. Ass. Konrad von Bonin

[53]    Treff- und Informationsort für Frauen aus der Türkei (TIO), Berlin-Forschung, Bd.2, Berlin Verlag, 1982, 2.Auflage, S. 147 f.

[54]    vgl. Rechtswissenschaft, in: Gender Studien, Eine Einführung, Ch. v. Braun/I. Stephan, Stuttgart/Weimar, Metzler 2000, S. 157

[55]    Harding, Feministische Wissenschaftstheorie. Zum Verhältnis von Wissenschaft und sozialem Geschlecht, Hamburg 1990, S. 265/66

[56]    https://de.wikipedia.org/wiki/Einstufige_Juristenausbildung_(Deutschland)

[57]    Gerhard, a.a.O., S. 10/11

[58]    https://de.wikipedia.org/wiki/TIO_(Verein)

[59]    vgl. Susanne Baer, a.a.O.

[60]    Künzel, Gewalt/Macht, in: Christina von Braun/Inge Stephan, Hrsg., Gender@Wissen, 2. Auflage, UTB, 2009, S.149-152

[61]    StVollzG, Kommentar zum Strafvollzugsgesetz, Reihe Alternativkommentare, bearb. von Eberhard Brandt u.a., Luchterhand Verlag, Darmstadt 1980

[62]    Frauen als Terroristen, Zur Besinnung auf das soziologische Paradigma, in: Kriminologisches Journal 4/78, S.264-280.

[63]    Bull, die Reform ist tot – es lebe die Reform, in: Heinz Giehring /Fritz Haag/ Wolfgang Hoffmann-Riem/Claus Ott, Hrsg., Nomos Baden-Baden. 1990., S.1

[64]    https://de.wikipedia.org/wiki/Einstufige_Juristenausbildung_(Deutschland)

[65]    in: Sozialarbeit und Soziale Reform, Zur Geschichte eines Berufs zwischen Frauenbewegung und öffentlicher Verwaltung, Festschrift zum 75jährigen Bestehen der Sozialen Frauenschule Berlin-Schöneberg/Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik Berlin, Hrsg. Rüdeger Baron, Beltz, Weinheim/Basel 1983, S.52

[66]    Pasternack „Demokratische Erneuerung“, Eine universitätsgeschichtliche Untersuchung des ostdeutschen Hochschulumbaus 1989-1995, Beltz Deutscher Studien Verlag, Weinheim, 1999, S. 369

[67]    Pasternack, a.a.O.

[68]    Zu Details: Auszug aus dem Jahresbericht 1995 des Rechnungshofes Berlin, abgedruckt in der Drucksache 12/5452 des Abgeordnetenhauses von Berlin, 12. Wahlperiode, S. 65-68

[69]    vgl. Eine starke Geschichte, Hamburg macht Frauenpolitik, Wir werden 20, Brigitta Huhnke, im Auftrag des Senatsamtes für die Gleichstellung, Freie und Hansestadt Hamburg, Hamburg 1999

[70]    vgl. Staatliche Pressestelle, Freie und Hansestadt Hamburg, sfg/26.Juli 2001

[71]    vgl. Ayla Neusel Hrsg., Die eigene Hochschule, Internationale Frauenuniversität „Technik und Kultur“, Schriftenreihe, Band 1, Leske und Budrich, Opladen 2000

[72]    Rita M.Gross, Buddhism after Patriarchy, A Feminist History, Analysis and Reconstruction of Buddhism, State University of New York Press, Albany 1993. Charlotte Joko Beck, Everyday Zen, Love &Work, HarperSanFrancisco, 1989

[73]    Vgl. Gnant, Ch., Der lange Weg zur Autonomie: Die Organisation der Universität Wien und das Universitätsgesetz 2002, in: Fröschl u.a., Hg., Reflexive Innenansichten aus der Universität, V&R unipress, Vienna University Press, Göttingen 2015, S. 21 f.