Walpurgisnacht

Die Walpurgisnachtdemos gehen auf unangemeldete Nachtdemos zurück, zu denen sich Frauen aus dem Frauenzentrum spontan an Orten versammelten, an denen zuvor Frauen auf der Strasse überfallen, vergewaltigt und ermordet worden waren.
Aus einer wilden Jagd durch nächtliche Strassen wurde 1977 eine angemeldete Demo mit Fackeln und neun Jahre später eine fröhlicher Umzug, der von der Frauen-Sambagruppe begleitet wurde.

Erst viel später wurde aus der Walpugisnacht –  der Nacht vor dem 1.Mai –  ein Treffen zwischen Bereitschaftspolizei und jungen Männern, eine jährlich wiederkehrende Zerstörungsorgie, die viele Schaulustige nach Kreuzberg lockte.

Fackelzug der Frauen in Chaltottenburg, 1.3.1977

Alle Berliner Zeitungen und die Abendschau berichteten über das Ereignis; kein Wunder, denn es war wirklich eindrucksvoll: tausend Frauen mit Kackeln in den engen, dunklen Straßen von Alt-Charlottenburg!

Tags darauf befragte ich in der Gegend Frauen, Kinder, Männer zu ihrer Meinung über die Demo. In Berlin sind Demos prinzipiell unbeliebt – diesmal aber war die Zustimmung überwältigend: ‘Richtig!’ hieß es, ‘es bleibt einem ja nicht anderes mehr übrig’, ‘dufte’, ‘Klasse’ ‘öfter machen’, ‘sagenhaft’.
Da die Demo nicht am Ku-damm stattfand, sondern am Ort des Geschehens, haben die Bewohner unsere Motivation sofort verstanden. Ausser zweien hatten alle Frauen mit denen ich sprach Angst nachts alleine auf die Straße zu gehen. Zwei Frauen, die bis spät arbeiten, lassen sich jeden abend von ihren Ehemännern vom Bus abholen.
Trotzdem meinten alle, daß Frauen teilweise auch selbst Schuld haben, wenn sie vergewaltigt werden – daß sie nämlich nicht genug vorsichtig gewesen wären; “allerdings ist es schon traurig, wenn man nachts nicht mehr mal raus kann, als Frau muß man doch die gleichen Rechte haben wie der Mann”.

Daß ein Mann, der einmal vergewaltigt ohne angezeigt zu werden, dies auch ein zweites Mal tut, bejahten alle; entsprechend entsetzt waren sie denn auch ob der Tatsache, dass 99,5 % der Vergewaltiger nicht bestraft werden. Sie erklärten dies mit der Scham der Frauen Anzeige zu erstatten.

Bei der Frage nach dem Strafmaß reagierten Frauen und Männer gleich “auf jeden Fall härter”, “5 Jahre”, “1oJahre”, “psychiatrische Behandlung”, “Arbeitsdienst”. Denn alle sahen den Vergewaltiger als Triebtäter, als kranken Menschen, der von der Gesellschaft ferngehalten werden müße. So wird versucht, die gesellschaftliche Ursache, die Alltäglichkeit des Verbrechens, seine Funktion zu negieren, indem man jene “Frontkämpfer im Krieg der Geschlechter” (Susan Brownmiller) als Aussenseiter abtut. Eine amerikanische Untersuchung aber hat ergeben, daß sich der Vergewaltiger psychisch in nichts von einem wegen anderer Delikte Verurteilten unterscheidet, d.h. ein Vergewaltiger ist nicht “kränker” als ein anderer Krimineller. Auf die Frage, wie frau sich schützen kann, waren Frauen wie Männer recht ratlos, Judo, Karate wurden erwähnt und daß man sich bei Hilfeschreien nicht taubstellen sollte (zum Mord an Susanne Schmidtke gibt es sogar einen Zeugen) und daß man sich doch gegenseitig mehr zu Hilfe kommen sollte, z.B. wie bei diesem Vorfall in Berlin:
Zwei Fahrgäste eines BVG-Busses beobachteten, wie eine Frau von einem Mann in einem Hauseingang belästigt wurde. Sie machten darauf aufmerksam, der Busfahrer hielt, die Fahrgäste stürzten hinaus und halfen der bedrängten Frau.
Dieses Beispiel zeigt, daß es auch hier und jetzt möglich ist, uns gemeinsam gegen Belästigung, Mißhandlung und Gewalt zu wehren. Wir müßen nur wollen!

Die Angst ist unser schlimmster Feind

Sarah Haffner’ Rede nalässlich der Demo am 1.3.1977:

Die 26jährige Susanne Schmidtke, die in der Nacht zum 3. Februar vermutlich das Opfer eines Sittlichkeitsverbrechens wurde, erlag in der Nacht zum Sonntag ihren schweren Verlet-zungen.” So berichtete „Der Tagesspiegel” vor einer Woche.

Eine Frau ist ermordet worden, und die Zeitung spricht von einem vermutlichen Verbrechen gegen die Sittlichkeit.
Eine Frau ist missbraucht und misshandelt worden, aber nicht sie hat es getroffen, sondern die Sittlichkeit. Ich weiß nicht, was Sittlichkeit ist. Ich kenne sie nicht. Vergewaltigung und Misshandlung richten sich nicht gegen die Sittlichkeit, was immer das sein mag, sondern gegen Frauen. Gegen uns alle. Vergewaltigung und Misshandlung sind politische Akte, durch dieMacht demonstriert und Macht aufrecht erhalten wird. Susanne ist das Opfer eines politischen Verbrechens.

Jede von uns könnte die Nächste sein. Wir alle haben Angst, und wir sollen alle Angst haben. „Vergewaltigung ist nichts mehr und nichts weniger als ein bewusster Prozeß der Einschüchterung, durch den alle Männer alle Frauen in einem Zustand der Angst halten”, sagt Susan Brownmiller.

Alle Männer. Ein Mann, der vergewaltigt, ist kein gestörter Psychopath, kein sexuell Hungernder, nicht einmal eine Ausnahme, wie das Verhalten von Männern in und nach dem Krieg beweist. Er folgt nicht einem plötzlichen Drang, sondern plant in den meisten Fällen sein Vorgehen; und er sucht sich ein Opfer aus, das ihm möglichst schwach erscheint: das kleine Mädchen, die alte Frau, die verängstigte Frau. Er ist ein Mann, der stellvertretend für alle Männer und mit ihrer Billigung alle Frauen bedroht. Ein Machttäter.

Alle viertel Stunde wird in Deutschland eine Frau vergewaltigt. Etwa eine Million Frauen in der Bundesrepublik und West-Berlin werden misshandelt. Und keine Polizei und kein Gericht schützt uns vor dieser Gewalt, denn die Sittlichkeit dieser Gesellschaft ist eine Sittlichkeit, die Gewalt gegen Frauen fördert, billigt und unterstützt. Sie ist die Sittlichkeit von Männern, die Frauen als ihren Besitz betrachten. Sie gibt jedem Mann das ausdrückliche Recht, „seine” Frau zu vergewaltigen; sie sieht darüber hinweg, wenn er „seine” Frau zusammenschlägt. Sie nimmt Verbrechen gegen Frauen bestenfalls als Beschädigung des „Besitzes” anderer Männer wahr. Diese Menschenverachtung nennt sich „Sittlichkeit”.

Wir Frauen lernen von klein auf, mit der Angst zu leben, uns unauffällig zu verhalten, keinem Fremden zu trauen, nachts nicht allein auf die Straße zu gehen, immer vorsichrig zu sein. Wir werden angehalten, passiv zu sein, zu dulden. Wir werden zu Opfern erzogen.

Und wenn wir Opfer werden, dann reden uns Polizei und Gerichte ein, dass wir selbst Schuld seien, dass wir provozieren, dass wir es verdienen, dass wir es so gern haben.

Nein, wir haben es nicht gern so. Wir provozieren es nicht, und wir haben es nicht gern, angegriffen, beherrscht, ausgenützt, bedroht und gedemütigt zu werden. Wir haben keine Schuld an der Gewalt, die uns angetan wird.

Frauen, diese Gewalt können wir nicht länger dulden. Wir müssen endlich lernen, uns zu schützen und zu wehren.
Die Angst ist unser schlimmster Feind. Sie ist es, die uns schwach macht und lähmt. Unsere Verteidigung muß darin liegen, alert zu sein, reaktionsschnell, hinhaltend und abwehrbereit. Ein Schuh oder eine Tasche können im Notfall Waffen sein. Nicht „Hilfe” schreien, sondern „Feuer”. Vor allem nicht gleich nachgeben. Schon die entschiedene Abwehr, mit der er nicht rechnet, kann einen Mann dazu bringen abzulassen.

Jede von uns muß bereit sein, sich selbst zu schützen, aber wir müssen auch anderen Frauen helfen. Wir brauchen Telefondienste, die jederzeit erreichbar sind, an die Frauen sich um Rat und Hilfe wenden können. Keine Frau sollte länger allein den Fragen von Polizei und Gerichten ausgesetzt sein. Wir müssen sie begleiten und unterstützen. Wir müssen Gruppen bilden, um gegen die Gewalt vorzugehen. Damit Frauen nicht länger allein sind. Damit sie nicht länger schweigen.

Frauen. Susannes Tod soll uns alle treffen, und er trifft uns alle. Das, was uns heute zusammenführt, ist Wut. Unendliche Wut. Laßt uns mit dieser Wut kämpfen. Keine von uns wird frei sein bis wir selbst über unsere Körper bestimmen. Laßt uns für unsere Freiheit kämpfen!

In: Courage 1977, 4, S. 5.