Das Private ist politisch

Die Frauen kamen aus den unterschiedlichen Richtungen: Anarchistinnen, Lesben, PL/PI, Rote Hilfe, etc. – aber alle waren sich sofort einig, wie das Frauenzentrum auszusehen hat und ganz ohne die sonst in allen linken Gruppen üblichen Linien-Diskussionen.
Sie stritten sich im Plenum auch, aber nicht, um sich mit ihrem Wissen zu profilieren, wie sie das von den linken Gruppen her kannten.

Woher plötzlich diese Einmütigkeit – man vergleiche mit dem ständigen Zwist beim Aktionsrat zur Befreiung der Frauen – wie lässt sie sich erklären?

Cristina Perincioli[0] sieht drei neue politische Prinzipien, die diesen Unterschied bewirkten. Es könnte sien, dass die Frauenbewegung die erste politische Gruppe war, die diese Prinzipien realisierte, auf denen die nachfolgenden Bürgerinitiativen basieren:

1. Unmittelbarkeit

Die Frauen verzichteten darauf, den richtigen Weg zur Revolution zu kennen, respektive die Revolution überhaupt anzustreben. Sie wollten nur jeweils das anpacken, was ihnen unter den Nägeln brannte. Das waren sehr unterschiedliche Arbeitsfelder, doch ging es immer um Veränderungswünsche, die direkt vermittelbar und zum Teil auch erreichbar waren. Es arbeiteten Gruppen zur Situation von Frauen an der Hochschule und der PH, Medienfrauen und Erzieherinnen bildeten ebenfalls berufsbezogene Gruppen, persönliche Konflikte berieten Sexualitätsgruppe, und Selbsterfahrungsgruppen, um die Unversehrtheit des eigenen Körpers kümmerten sich Brot und Rosen, die § 218 Gruppe, sowie die Selbstuntersuchungsgruppen.

Alle diese Gruppen leisteten theoretische wie praktische Arbeit und Selbstreflexion. Strategiediskussionen gab es nur anhand selbst erfahrener Erfolge oder Misserfolge und nicht in Anlehnung an Schriften aus dem 19. Jahrhundert, wie es beim Sozialistischen Frauenbund (SFB) und den anderen dogmatischen linken Gruppen üblich war.

2. Sich selbst ernst nehmen

Für all jene Frauen, die bisher in linken Zusammenhängen gelebt und gedacht hatten, und dabei ihre drängendsten Probleme immer wieder als unwichtig und unpolitisch herabgesetzt sahen, war es eine Erlösung, endlich eine mit ihnen identische politische Arbeit angehen zu können und verteidigten fortan diese Erkenntnis auch mit Entschiedenheit. Anja Jovic beschreibt 1974 diesen Entwicklungsprozess so:

In eine Frauen-Gruppe zu gehen, schien mir nicht notwendig: ich hatte ja alles, mein Studium, meine Unabhängigkeit (?), meine Pille, meine Beziehungen. Nur wenn ich gerade mal Kate Millet oder so was las, regte sich die kalte Wut in mir. Mein Freund sagte: Das musst du doch wissen, dass das alles nur Spielarten des Grundwiderspruchs sind. Ich war stocksauer: schon wieder war ich nicht betroffen, da ich keine Lohnarbeit leistete. Aber warum zum Teufel ging es mir schlecht?[1]

Das Plenum des Frauenzentrums wurde für mich emotional ungeheuer wichtig: ich erlebte zum ersten Mal, dass Frauen sich selbst ernst nahmen, sich selbst zum Gegenstand politischer Praxis machten, dass sie die Stirn hatten, etwas für sich selbst zu fordern, ohne sich hinter der Arbeiterklasse zu verstecken. Meistens ging es um medizinische Probleme, um den §218, und daran machten sich sehr viele meiner eigenen Schwierigkeiten fest, die ich niemals als politisch begriffen hatte. All die vereinzelten demütigenden Erfahrungen bei Frauenärzten, die mir z.B. wegen einer Eierstockentzündung, die ich wahrscheinlich nie gehabt habe, nacheinander empfahlen: Klinikaufenthalt, sexuelle Enthaltsamkeit und sofortige Mutterschaft, all diese Erfahrungen, Klapse auf den Po, väterliches Grinsen, Massenabfertigung, fügten sich zusammen zu einem System von Gewalt, für das in meinem ‚revolutionären Bewusstsein’ kein Platz gewesen war.[2]

3. Autonomie

Die Versuche von dogmatischen Gruppen, uns für bestimmte Anlässe zu vereinnahmen, wurden von uns mit wütender Entschiedenheit abgewehrt, Kooperationen mit Parteiorganisationen nur mit größter Umsicht eingegangen. Ein Beispiel: Bei einer Demonstration gegen den §218 beanspruchte auch der Kommunistische Bund Westdeutschland (KBW) einen Platz. In zähen Verhandlungen einigten wir uns auf eine Reihe von Parolen, die nicht ausschließlich Eigenwerbung des KBWs beinhalteten. Vorsorglich führte ich eine Zange mit mir, um ihre Lautsprecher lahm zu legen, für den Fall, dass sie sich nicht an unsere Abmachung halten sollten. Aus Erfahrung wussten wir, dass kommunistische Organisationen sich gerne an populäre Bewegungen hängten, um die Veranstaltungen dann – Kraft stärkerer Lautsprecher – als die ihren erscheinen zu lassen.[4]

Unter „Autonomen“ versteht man 30 Jahre später nur noch den „Schwarzen Block“ – junge Männer in Sturmhauben. Wenn sich das Frauenzentrum autonom nannte, dann weil es eine der wenigen Initiativen war ausserhalb und unabhängig von Parteien, die ja  alle mehr oder weniger mit „demokratischem Zentralismus“ funktionieren:

Von oben her werden alle Entschei­dungen gefällt und durchgesetzt, die Mitglieder dürfen nur noch beraten, wie sie diese Entscheidungen am besten umsetzen.[5]

Ein ‚Nebenwiderspruch’ blieb für alle K-Gruppen auch die Frauenfrage; ihre ‚Einschät­zung’: Zuerst müsse der Hauptwiderspruch, jener zwischen Lohnarbeit und Kapital gelöst werden, dann wäre damit auch die Unterdrückung der Frauen abgeschafft. Da sich Frauenemanzipa­tion später von selbst einstellen würde, lohne es nicht, Frauengrup­pen zu gründen, es sei denn, als ‚Durchlauferhitzer’ – wie die Schulung von Frauen damals genannt wurde – um sie für die Partei zu rekrutieren.

Christiane Ewerts mit Isolde… Foto: M.S.

Betroffenheit versus politische Linie?

Eine Parteigenossin bedrückte eine bevorstehende Abtreibung:

Die Frauen, die ich um Rat fragte, haben es als Lappalie abgetan, für mich war es aber ein ziemlich großes Problem. Den Männern, mit denen ich zusammengearbeitet habe, konnte ich das gar nicht erzählen. Mir ist dann klar geworden, menschlich kannst du mit denen nichts anfangen. Solche Probleme waren einfach nicht zu thematisieren, weil eine strikte Trennung zwischen Privatbereich und politischer Arbeit bestand und ich musste dieses Problem gezwungenermaßen in meinem Privatbe­reich lösen.“[6]

Die persönliche Identifikation mit dem Agitationsziel war fast immer oberflächlich. Zwar hatte einem die sogenannte ‚politische Bedeutung des Kampfes’ durch Artikel aus dem Zentralorgan und Diskussionen in der Grundeinheit klar zu sein, außer diesen Richtlinien hatte man aber meist kaum eine Ahnung von den Problemen und Konflikten, über die man agitierte, geschweige denn war man persönliche davon betroffen.“[7]

Da blieb nur die Flucht in die absurde These, das wichtigste sei, dass die politische Linie der Partei stimmt; die Massen kämen später schon dahinter.[8]

Soweit ein Blick in die Parteienlandschaft, der sich das Frauenzentrum verweigerte, unzählige Übernahmeversuche tapfer abwehrte, seine Autonomie verteidigte.

Politik der ersten Person

In Wikipedia kann man dazu lesen:

Politik der ersten Person ist ein politisches Konzept, das eine so genannte Stellvertreterpolitik ablehnt, die Trennlinie zwischen „privat“ und „öffentlich“ zurückweist und die Politisierung der Privatsphäre beinhaltet.

Die Politik der ersten Person wurde vor allem in der zweiten Frauenbewegung der 1970er Jahre entwickelt. (..) Mit der Parole „Das Private ist politisch“ oder auch „Das Persönliche ist politisch“ wurde ein neues Politikfeld geöffnet, in welchem unmittelbar gekämpft wurde.

Indem Frauen seit Ende der 1960er Jahre in consciousness-raising Gruppen über ihre persönlichen Beziehungen zu Männern, über Sexualität, Schwangerschaft, Kindererziehung und Gewalt sprachen, begannen sie, diese Bereiche zu politisieren.

Und weiter in Wikipedia:

Die Politik der ersten Person entstand parallel zur Etablierung der neuen sozialen Bewegungen und hatte einen großen Einfluss auf die Bürgerinitiativbewegung, die Alternativbewegung und zunächst auch auf die Partei Die Grünen, sowie auf basisdemokratische Konzepte. Auch die Bewegung der Autonomen übernahm weitgehend das Konzept der Politik der ersten Person. (..) Hieraus folgte auch, dass ein Paternalismus strikt abgelehnt wurde und eine Unterstützung stets nur „Hilfe zur Selbsthilfe“ sein konnte. Der Ansatz war hier, dass politische Aktionen von den Betroffenen auszugehen haben oder zumindest in enger Abstimmung mit ihnen und nicht über ihre Köpfe hinweg.

Cristina Perincioli mit Tellermine und Doppelaxt 1975 Foto: M.S.

These

Aus der Politik der ersten Person ergibt sich die These, die Perincioli in „Berlin wird feministisch“ vertritt:

Die Anti-Atom-Bewegung und alle folgenden Bürgerinitiativen realisierten sich entlang von Strukturen, die nicht die APO, sondern die Frauenbewegung in den Jahren zuvor aufgebaut, erprobt und verteidigt hatte, nämlich jene die Kuby und Marzahn in ihrem Aufsatz in Kursbuch 48 [10] den Bürgerinitiativen zuschreiben:

Basisdemokratie

„Demokratischen Kommunikations- und Entscheidungs­strukturen. Es gibt keine formalisierten, hierarchischen Befehlskompetenzen oder Unterord­nungsgebote und daher auch keine Denkverbote, keine Selbst­zensur“.[10]

Meinungsvielfalt

„Einigkeit im Ziel […] ansonsten Vielfalt der Meinungen. Bürgerinitiativen verzichten darauf, …einen einheitlichen politischen Standpunkt durchzusetzen“.[10]

Selbstbildung statt Schulung

Die Anti-Atom-Bewegung wurde zur umfassendsten ‚Volks-Schulung’ der deut­schen Nachkriegsgeschichte.

„Die Lernprozesse, mit denen wir es hier zu tun haben, spielen sich anders ab als in unseren gewöhnli­chen Lernanstalten. Die Lerninhalte erwachsen aus den Lebensinteressen der Lernenden und brauchen deshalb nicht unter besonderer Stimulation oder unter Zwang vermittelt und nicht durch Zertifikate bescheinigt zu werden. Es gibt keinen Numerus clausus, ganz im Gegenteil! Die Lernenden konkurrieren nicht gegeneinander, sondern kooperie­ren, und je besser sie dies tun, desto eher erreichen sie ihr Ziel.

Es gibt Spezialisten für bestimmte Fragen, aber keine professionellen Lehrer und keine Wissensmonopole. Die Rollen zwischen Lehrendem und Lernendem wechseln, der Lehrer der Physik ist bei der Platzbe­setzung vielleicht der Belehrte. Der Komplexität des Lernfeldes entspricht die Flexibilität der Lern­for­men, die vom aktionsgebundenen Aha-Erlebnis bis zur systematischen und planmäßigen Unterrich­tung reichen“.[10]

Aufklärungsbewegung

„APO und Bürgerinitiativen sind Aufklärungsbewegungen. Sie durchbrechen und zerstören durch Denk­tabus geschützte Ideologien: die ‚Gerechtigkeit’ des Vietnam-Krieges, … etc. Sie machen Geheimes offenbar – z. B. die Katastrophenpläne für Atomkraftwerke – und Unzugäng­liches zugänglich.“[10]

Das gilt noch mehr für die Frauenbewegung, die durch das Mittel der Selbstentblößung (Selbstbezichtigung, Abtreibung im Fernsehen, das Öffentlichmachen von sexuellem Missbrauch) unhaltbare Zustände ans Licht zerrte und Tabus brach.

Linke Parteien versus Bürgerinitiativen und Frauenbewegung

Den Zuspruch, den Bürgerinitiativen und Frauengruppen Anfang der 1970er Jahre seitens der Bevölkerung erfuhren, weckte Begehrlichkeiten im linken Lager: Zuerst versuchten die K-Gruppen die Frauenbewegung in ihre Richtung zu lenken, was ihnen im Sozialistischen Frauenbund gelang, im Frauenzentrum aber abgewehrt wurde. Dann nahmen sie sich andere Gruppen mit ‚Massenzulauf’ vor, wie die Bürgerinitiativen.[10]

[0] Für diesem Beitrag hat Cristina Perincioli Auszüge aus ihrem Buch „Berlin wird feministisch“, Berlin 2015, S.89 ff. selbst überarbeitet.
[1] Jovic, Anja: Ich war getrennt, a.a.O., S. 74.
[2] Jovic, Anja: Ich war getrennt, a.a.O., S. 76.
[4] Cristina Perincioli,“Berlin wird feministisch“, Berlin 2015, S.147 ff.
[5] Wir warn die stärkste der Partein – Erfahrungsberichte aus der Welt der K-Gruppen, Anonymes Autorenkollektiv, Berlin 1977, S. 77.
[6] Wir warn die stärkste der Partein, a.a.O., S. 46.
[7] Wir warn die stärkste der Partein, a.a.O., S. 55.
[8] Wir warn die stärkste der Partein, a.a.O., S. 76.
[9] Für diesem Beitrag hat Cristina Perincioli Auszüge aus ihrem Buch „Berlin wird feministisch“, Berlin 2015, S.147, 148.
[10] Kuby, Thomas/Marzahn, Christian: Lernen in Bürgerinitiativen gegen Atomanlagen. In: Kursbuch 48- Zehn Jahre danach, Berlin 1977, S. 153-172