Gisela Bock

Foto: Annette Koroll

Im Zentrum des Interviews, begonnen am 12. August 2016, stehen Erinnerungen und Recherchen von Gisela Bock zur „Berliner Sommeruniversität für Frauen“ (6.- 10. Juli 1976). Sie spricht als Historikerin und Feministin über den Stellenwert der „Sommeruni“ in ihrem Leben, und zusammen mit der Interviewerin, Cillie Rentmeister, gehörte sie einst zu dem Dutzend Frauen, welche die Sommeruniversität initiierten.

1. Jugend: Geschichte und Frauenbefreiung

CR: Fangen wir mit der Zeit vor der Sommeruniversität an. Erstmal die Bildungsbiografie, der Studien- und Berufswunsch und wie es bei dir zur Wahl des Fachs „Geschichte“ gekommen ist.

GB: Das war ein weiter Weg. Und er war nicht vorgegeben. Ich komme aus einer großen, nicht-akademischen Familie in einer ländlichen und vorwiegend katholischen Kleinstadt im Schwarzwald. Die Männer waren Handwerker, Schriftsetzer, Berufsschullehrer, Stadtschreiber usw., die Frauen arbeiteten im Haushalt, im Kleinhandel, für die Post und als Sekretärin. Unter den 12 Geschwistern der Generation meiner Eltern machte nur eines der sieben Mädchen Abitur, und sie studierte sogar (Biologie). Als einziger Junge dieser Generation studierte mein Vater (Chemie) und hatte dann einen außeruniversitären Beruf (eine Art Ich-AG). In der nächsten Generation, mit 19 Kindern, studierten fünf der Jungs, außerdem eines der Mädchen: Das war ich. Eigentlich wollte ich, wie mein Bruder, Mathematik und Physik studieren, aber es kam anders.

Wichtig war für mich auch das Mädchengymnasium. Auf der Oberstufe (ich pendelte dafür zur nächsten größeren Stadt) habe ich keine direkten Erfahrungen mit den jungen Männern gehabt, die da nebenan zur Schule gingen. Damals habe ich in gewissem Sinn gelernt, mit „nur Frauen“ umzugehen, also ohne eine Brechung durch das männliche Geschlecht – das allerdings ein beliebter Gesprächsgegenstand war. Die Klassenlehrerin, Gabriele Straub, unterrichtete nicht nur Mathematik und Physik, sondern betrieb das mit Leidenschaft, und da ich in Mathe die Beste war, war natürlich eine Verbindung gegeben. Aber gleichzeitig war ich ziemlich rebellisch und wollte nie mit den übergeordneten Menschen anbändeln. Diese Lehrerin, die ich außerordentlich schätzte, war in den zwanziger Jahren eine der frühen Mathematikstudentinnen gewesen und blieb unverheiratet; sie ließ sich, wie es damals üblich war (und auch, als es nicht mehr üblich war), „Fräulein“ nennen – aus Stolz auf den Status der Ledigen. Viel habe ich von ihr gelernt, und viel hat sie für mich getan.

Dass es überhaupt zum Studium kam, wäre mit schlechteren Abiturnoten nicht möglich gewesen. Meine Noten führten auch zu einem Stipendium, und ohne das wäre es nicht ein Geschichtsstudium geworden, sondern allenfalls ein PH-Studium. Die meisten meiner Klassen­ka­me­radinnen in der Oberstufe haben an der Pädagogischen Hochschule studiert – offenbar ließ sich der Beruf der Grundschullehrerin am ehesten mit Ehe und Kin­dern vereinbaren.

Im vorletzten Schuljahr lebte ich in den USA, in Kalifornien, bei einer freundlichen Familie, mit der ich immer noch Kontakt halte, und habe das letzte Jahr der High School besucht. Hier hat sich mein Studienwunsch drastisch verändert. Mein Daddy war zwar ein hochaktiver Physiker, ich habe viel mit ihm über Physik gesprochen und mehrere seiner Physikbücher gelesen – aber trotzdem war ich am Ende des amerikanischen Jahrs auf dem Weg zur Geschichte (und nicht bloß, weil ich in der High School das Fach amerikanische Geschichte gewählt hatte).

Bei meiner Fächerwahl muss man etwas bedenken, was heute leicht vergessen wird: Geschichte war kein Frauenfach. Philologien, Sprach- und Literaturwissenschaften – das waren seit den zwanziger Jahren quantitativ die beliebtesten Frauenfächer an der Uni. Geschichte war bis zu den 1980er Jahren ein absolutes Männerfach. Ich habe also mit meinem Interessenwandel nicht etwa einer „weiblichen“ Präferenz nachgegeben. Zwar wollte ich eine Weile Englisch studieren, weil ich es in den USA so schön gelernt hatte – aber dann meinte ich: Nein, Sprache ist nur ein Instrument (das würde ich heute nicht mehr sagen), und ich kann es als Instrument überall sehr gut gebrauchen. Im Fach Geschichte aber lerne ich „den Menschen“ kennen (was man natürlich auch vom Fach Medizin sagen kann). Der war damals in meinem Kopf nicht besonders  spezifiziert nach männlich oder weiblich. Heute würde ich ironisch sagen: Mich interessierte „der Mensch und seine Frau“.

Im Lauf des ersten Studienjahrs, in Freiburg, bin ich abgewichen und fing an, Medizin studieren. Aber das fand ein Ende, nachdem ich mit einem Geschichts­professor (es war Hans-Günter Zmarzlik) und seiner Freundin eine ganze Nacht durchdiskutiert hatte über die Frage, was der Sinn von Geschichte und eines Geschichtsstudiums sei. Am Ende bin ich bei der Geschichte geblieben. Der Berufswunsch blieb völlig offen. Wie so viele andere jener Generation wollte ich nicht Lehrerin werden, sondern irgendwas Intelligenteres, weniger Repetitives. Ich wollte nicht werden wie meine Lehrer und wollte nicht die Gegnerschaft von Schülern, wie ich selber eine war, erdulden müssen. Auf die Frage, was ich werden wolle, gab es Antworten wie Journalismus, Museumsberufe und manches andere. Aber ich habe Geschich­te ohne bestimmtes Ziel studiert – außer „Erkenntnis“ beziehungsweise Interesse an vielen Fragen, die mich mehr oder weniger brennend interessierten.

CR: Hast du eine Karriere geplant?

GB: “Karriere” – das ist ja etwas, was heutzutage überall besprochen und empfohlen wird, für Frauen wie Männer, von den Tageszeitungen bis zu den Hochschulzeitschriften, was geplant und betreut und gefördert und gecoacht wird oder werden soll. Das war bei mir überhaupt nicht der Fall, und es war auch bei vielen anderen nicht der Fall, gerade auch Feministinnen oder Menschen in anderen sozia­len Bewegungen jener Zeit (im übrigen ist es insgesamt ein neues Phä­no­men). Die künftigen Frauen­for­sche­rinnen hielten erstens nichts von “Karriere” – das klang in unseren Ohren nicht wie Innovation oder gar Revolte, sondern wie Strebertum, Anpas­sung, Fremdbestimmung; es war ein pejorativ genutzter Terminus, gar ein Schimpfwort: “Karrieristin”. (Das kann man auch in dem Buch der Soziologin Ulla Bock nachlesen: Pio­nierarbeit: Die ersten Professo­rin­nen für Frauen- und Geschlechter­forschung an deutsch­sprachigen Hochschulen 1984-2014, 2015.) Zweitens hielten wir nichts von vorgegebener Planung. Lieber verlie­ßen wir uns auf uns selbst, wohl wissend, dass wir Neues suchten und das Neue nicht plan­bar war, sondern eine Heraus­forderung. Ihre Wege beschritten die Frauenforscherinnen stattdessen sehr konzentriert und reflektiert, aber auch leidenschaftlich, und das hatte viel mehr mit Politisie­rung in einem weiten Sinn zu tun. Diese reichte bei mir auch zurück zu dem angedeuteten auf­müpfi­gen Verhalten gegenüber Lehrern und Eltern, dem Einfluss meines Vaters, der als Liberaler in der Kom­mu­nal­politik gegen Konservative opponierte, übrigens auch meiner Mutter (sie hatte auf mein Studium gedrängt), und wurde befördert vom selbständigen Zei­tung­lesen und meinen Auslandsauf­ent­halten schon zur Schulzeit: in Frankreich (wir lebten in der französischen Besatzungszone), Italien, Öster­reich und vor allem in Britannien und den Vereinigten Staaten.

Einige Beispiele: Es gab natürlich die bekannten Auseinandersetzungen meiner Generation mit den Eltern über den Nationalsozialismus, aber auch viele andere Themen. Im Musik­unter­richt der Realschule gelang es mir, die Lehrerin (und die Mitschüler) dazu zu bewe­gen, auch Jazz in den Unterricht einzubeziehen, über dessen Wur­zeln und Bedeutung ich mich gut informiert hatte. Später, zur Kandidatenauswahl für den Auf­enthalt in den USA musste ich ein Refe­rat halten und suchte mir das Thema “Todesstrafe” aus, mit all den Argumenten gegen sie; auch in den USA vertrat ich diese Position und war hochgradig politisch interessiert. Das Jahr (1960/61) begann mit der Wahl John F. Kennedys; auch ich war für ihn, während mein Daddy für Nixon ge­stimmt hat, und das führte zu manch hefti­gen Debatten in Familie und Schule. Was ich die “Heraus­bildung des politischen Menschen” nenne, war ein langer Prozess, mit vielen ver­schiedenen Inhalten. Meine Politisierung als Feministin – ich halte auch das für etwas eminent Politi­sches – geschah in den 1970er Jah­ren, aber vorher war ich längst durch andere Themen politisiert worden. Ich habe zum Bei­spiel eine politische Ent­schei­dung getroffen, indem ich, nach dem Beginn meines Studiums in Freiburg, für den Rest der Studienzeit zwischen München und Berlin wählen wollte. Schlaflose Nächte habe ich darüber verbracht, in denen Berlin für “Politisches” stand und München für “Kul­tur”; bald konnte ich mich allerdings auch in Berlin nicht über einen Mangel an Kultur beklagen und habe mich immer an beiden Fronten betätigt (nur einige Jahre in den 1960ern und 70ern waren negativ für meine hausmusikalische Leidenschaft). Jedenfalls habe ich mich zunehmend als politischen Menschen verstanden, vor allem in den 1960er Jahren, bei der beginnenden Rebellion in Berlin oder besser (da “Rebellion” ein großes Wort ist): bei der zunehmenden Kritik. Natürlich musste ich dabei sein. Die Kritik artikulierte sich in vielerlei Formen, als Selb­ständig-Leben-Wollen, nicht oktroyiert Bekom­men, was zu tun ist, als Autonomie. Das ging schon lange vor 68 los, und in dem Maß, in dem ich dabei als Frau betroffen war, war das auch eine Frühform meines späteren Femi­nismus.

So setze ich nun an die Stelle von “Karrierewunsch” und “Karriere­pla­nung” meinen langen Prozess der Poli­ti­sierung, das Bedürfnis nach Erkenntnis und Bedeutsamkeit, was für mich sehr viel mehr brachte als eine “Planung”. Dass ich dann Karriere machte beziehungsweise dass ich einen Weg ging, der von man­chen nun als “Karriere” bezeichnet wird, war von vielen verschie­de­nen Faktoren bestimmt, darunter auch dem, dass ich Glück hatte: Zu meiner Zeit expan­dier­ten die Universitäten.

Bewegungen in Zeit und Raum

CR: Nun aber zu “68” und zu mehr Berlin-Spezifischem, nachdem du dich für Berlin und gegen München entschieden hast.

GB: 1968 in Berlin – da war ich weit weg, fast das ganze Jahr (allerdings war ich im Mai, als die große Demonstration gegen die Notstandsgesetze stattfand, eine Weile in Berlin und machte von hier aus den Sternmarsch nach Bonn mit). Unter anderem deshalb beto­ne ich immer, dass für mich alles schon vor 1968 anfing: mit einem sehr autonomen Stu­dium verschiedenster Fächer (inklusive Philosophie, Politik- und Musikwissenschaft), wie es heute nicht mehr möglich wäre, mit der Erfahrung der “Kritischen Universität” 1967 oder etwa der Vorlesungen des Religionsphilosophen Klaus Heinrich und derjenigen meines Doktorvaters Wilhelm Berges (meiner Bitte um Betreuung meiner Dissertation kam er nach vielen Monaten Ende 1967 nach, und ich war glücklich). Ich habe im AStA mit­ge­wirkt und war Anfang Juni 1967, als Benno Ohnesorg erschossen wurde, mit vielen ande­ren auf der Straße.

Ab Januar 1968 lebte ich dann in Rom, um an meiner Dissertation zu arbeiten. Sie ging über Süditalien im 16. und 17. Jahrhundert und behandelte gewisse “Sozialrebellen”, die auf dem Land agierten, vor allem ihren führenden Theoretiker, den Theologen und Mönch Thomas Campanella, bekannt als einer der frühen Utopisten (mit seiner Schrift “Der Sonnenstaat”). “Sozialrebellen” nannte man sie in der Nachfolge des großen britischen Historikers Eric Hobs­bawm (als österreichischer Jude war er aus Wien vertrieben worden), der 1959 mit seinem Buch “Primitive Rebels” berühmt wurde. In dieser Zeit erlebte ich sporadisch die römische Studenten­be­wegung, die damals weitaus gewaltsamer war als die berliner oder deutsche. In ihr habe ich nicht mitgemacht, aber gestaunt und war manchmal entsetzt.

Meine vielfältige Auslandserfahrung hat viel für meine persönliche und intellektuelle Inter­nationalisierung getan: die Zeit in Rom 1968 (es folgte noch ein weiteres Jahr 1976/77) ebenso wie meine frühere Zeit in den USA (auch hier folgte 1974/75 noch ein Jahr), ein Jahr in Paris (1965/66), vier Jahre in Florenz(1985-89) und eines in Budapest (2000/01 an der eindrucksvollen Central European University, die jetzt von der ungarischen Regierung abgewickelt werden soll, weil sie deren Radikalnationalismus nicht entspricht). Das heißt unter anderem, ich empfinde mich nicht so richtig als “Deutsche”, ob als “deutsche Feministin” oder “deutsche Historikerin”, sondern habe immer von den Orten, an denen ich war, viel gelernt, mich hineingelebt, mein Deutschsein und meine deutsche Sichtweise relativiert, und es blieb nicht bei einem schlich­ten Ver­hältnis dazu.

Wieder zurück in Berlin, wurde ich 1971 promoviert (also mit 29 Jahren) und ging sozu­sagen in das Berliner Bewegungsmilieu über, allerdings mit einer Spezifizierung: ich erhielt gleich nach der Promotion eine sog. Mittelbau-Stelle (also eine befristete) an der Freien Univer­sität und hatte mich auf akademische Weise in der akademischen Welt zu bewegen, wovon ich nicht viel Ahnung hatte. Eingestellt wurde ich damals von Hans-Ulrich Wehler, dessen Seminare ich besucht hatte (hier lernte ich auch Jürgen Kocka kennen), aber ganz bald wechselte Wehler nach Bielefeld, wo er seiner eigentlichen Karriere nach­ging: einer neugeschaffenen Professur an einer neugeschaffenen Universität – und er ließ mich “allein” zurück. So hatte ich fünf Jahre lang eine Assistentenstelle inne, deren zugehörige Professur zu meiner Zeit nicht besetzt wurde. Wie so oft damals, scheiterte die Neube­setzung, und als sie mit Knut Krakau erfolgreich war, war ich schon am Weggehen (das vorletzte meiner fünf Assi­sten­tenjahre verbrachte ich an der Harvard University). Eine solche Situation – lange Zeit keinen Chef zu haben – haben nur wenige erfahren, und manchmal bedauere ich das. Wäre es anders gewesen, so hätte ich vermutlich (noch) mehr gelernt und wäre auch mein Weg um einiges anders verlaufen – jedenfalls hatte ich ein hohes Maß an Freiheit. Mein Interesse richtete sich auf die nordamerikanische Arbeiterbewegung (daraus ent­stand ein Buch über Die „andere“ Arbeiterbewegung in den USA, 1976), aber immer mehr – in einem vierjährigen Prozess – auf die Arbeiterin­nen­bewegung und schließlich die Frauenbewegung sowie, allgemein, die Frauengeschichte.

Bewegungen innerhalb und außerhalb der Universität

Wichtig war für mich von Anfang an, dass sich mein damaliges Leben (neben der wissen­schaft­lichen Aktivität) in einer Balan­ce, oder einer nicht ganz geschafften Balance, zwi­schen inneruniversitärer und außer­uni­versitärer Aktivität abspielte. Das waren einerseits die außeruniversitäre Frauenbewegung – ich war von Anfang im Frauenzentrum engagiert – und andererseits die inneruni­versitären Bewe­gun­gen; aber eine universitäre Bewegung von Frauen gab es an der FU 1973 noch nicht, eine solche begann um 1974 (als ich gerade in die USA ging). 1973 habe ich eine Schrift aus dem Italie­ni­schen übersetzt, die dann bei manchen zu einer Art Bibel für die autonome Frauen­be­wegung wurde: Die Macht der Frauen und der Umsturz der Gesellschaft, eine Kooperation der italienischen Politik­wissen­schaftlerin Mariarosa Dalla Costa und der US-amerika­ni­schen Aktivistin Selma James (erschienen 1972 auf Italienisch und Englisch, auf Deutsch seit 1973 in drei Auflagen). Für mich war diese italo-amerikanische Kooperation, mit Blick auf meine zweite und dritte Heimat, besonders interessant und wichtig. Ich habe also im Jahr 1973 meinen Feminismus ausgedrückt mit Aktivitäten im Frauenzentrum und einer Über­setzung, aber noch nicht mit einer Umwälzung meiner Forschung und Lehre an der Uni­ver­sität. Das passierte  dann allerdings bald, nämlich während der Zeit in den USA, als ich mehr über Feminismus und Frauenbewegung erfuhr, als ich bis dahin je gehört hatte, und nach meiner Rückkehr nach Berlin. Bis 1990 ging es in drei Dutzend meiner Lehr­ver­an­staltungen (auch) um Frauen und Geschlechterbeziehungen.

CR: Eine Frage und Rückblende: 1968, als du in Rom warst, gab es in Deutschland ja schon einige Ansätze zur Frauenbewegung: der berühmte Tomatenwurf von Helge Sander gegen die Männer des SDS, linke feministische Aktionen hatten schon stattgefunden und Gruppie­rungen hatten sich gebildet. Mit Bezug auf Rom frage ich: War denn dort, innerhalb des Tumults, auch schon etwas Frauenkämpferisches spürbar? Bist du damals schon damit “infiziert” worden?

GB: Ende der 1960er Jahre gab es das in Rom noch nicht, jedenfalls nicht auf sicht­bare Weise, obwohl es natürlich auch dort immer Stimmen gab, die für eine univer­sitäre Bil­dungsförderung von Frauen plädierten. Aber in jener gewaltsamen männlichen Studen­ten­bewegung waren (für mich) Frauen nicht sichtbar. Sichtbar und hörbar wurde der neu­arti­ge weibliche Aufruhr erst in den 1970er Jahren, und der Höhepunkt dieses Über­gangs war die Besetzung des Palazzo Nardini in Rom 1976, in der Via del Governo Vecchio 39, im “Centro Storico”; der Palazzo wurde zu einer bis heute wichtigen Casa delle Donne (jetzt in der Via della Lungara). Hier habe ich 1976/77, als ich nach Rom zurückkehrte, mit­gemacht und viele Italienerinnen kennengelernt, die auch noch Jahre später aktiv waren, zum Teil in der Bewegung für Frauenstudien.

CR: Hast du Mariarosa Dalla Costa persönlich kennengelernt? War sie damals auch schon aktiv?

GB: Ja, 1972, als ich die Übersetzung ihres Textes in Angriff nahm, habe ich sie kennengelernt. Im Mai 1974 besuchte sie dann Berlin, zusammen mit Selma James, für Vorträge und Diskussionen, zum Beispiel in den Räumen der HAW-Frauengruppe (Homosexuelle Aktion Westberlin) und im Frauenzentrum. Ende der 1960er Jahre war sie noch in der neu-linken Bewegung engagiert, die in Padua und von dort aus in den Fabriken des Veneto agitierte. Ihre eigene Darstellung dieser Zeit findet sich in dem Buch von Louise Toupin, Le salaire au travail ménager: Chro­nique d’une lutte féministe internatio­nale, 1972-1977 (erschienen 2014, in 2017 auch auf Englisch). Dieses Buch präsentiert die internationale Kampagne für Lohn für Hausarbeit, für die  Mariarosas Text von 1972 als Grundlage diente; sie dauerte ungefähr sieben Jahre, und in ihr habe auch ich mich engagiert. Der Bruch zwischen Ende der 60er Jahre und den 70er Jahren ist im Fall von Maria­rosa ganz deutlich: Von der Fabrikagitation, die im wesent­lichen auf Männer zielte, und vom Konzept der Fabrik als Zentrum der Gesellschaft, wo jede Reform oder gar Revolution ansetzen müsse, hin zu dem an Frauen orientierten Konzept, dass im Zent­rum der Aktivität und des Denkens diejenigen Orte stehen müssen, wo Frauen arbeiten, han­deln und denken, also das Haus, die Familie, die städtische Umwelt. Bei Mariarosa (und Selma James) war dieser Bruch aber kein Bruch mit Marx bzw. dem Marxismus: Sie be­trach­teten sich weiterhin als (authentischere) Marxisten, und darin unterschied sich zum Beispiel auch mein Engage­ment in der Lohn-für-Hausarbeits-Kampagne bzw. die deutsche und einige andere Varianten dieser Kampagne. (Vgl. dazu https://schirmacherproject.univie.ac.at/die-vielen-biographien-der-kaethe-schirma­cher/statements/gisela-bock/ , außerdem im Buch von Louise Toupin die Kapitel 1.7, 6.2 und S. 445.)

Im übrigen hatte auch ich mich einst in einer Form von Fabrikagitation engagiert, nämlich 1970 (nach Abschluss der Dissertation), als ich mich für das Schicksal der italienischen Arbeits­emigranten interessierte. Ich arbeitete zusammen mit einigen Aktivisten des le­gendären Otto-Suhr-Instituts an der Zeitschrift “L’emigrante in lotta”, die wir für italie­nische Arbeiter bei Volkswagen in Wolfsburg machten – darunter waren praktisch keine Frauen –, und diskutierte sie einige Male mit solchen Emigranten in Wolfs­burg, deren Lebensverhältnisse miserabel waren. Als ich dann die Stelle am Kennedy-Institut erhielt, war meine Entscheidung, die amerikanische Arbeiterbewegung um 1900 zu studieren und dabei vor allem die Millionen aus Europa nach Amerika eingewanderter Arbeiter und Arbei­terinnen, sicher auch beeinflusst von meiner – wenn auch bescheidenen – voran­ge­gangenen Mili­tanz­erfahrung.

Feminismus und Frauenbefreiung

CR: In den 70er Jahren wurde das Wort “Feminismus” oft geradezu als Schimpfwort den engagierten Frauen entgegengeschleudert. Hast du ähnliche Erfahrungen gemacht?

GB: Die großen Worte oder Begriffe sind immer ein heikles Thema. Sie sind umstritten und wandeln sich. In den 70er Jahren habe ich nicht sehr viel von dem Begriff “Feminismus” gehalten – es war die Zeit, in der bald zahlreiche Analysen, Einteilungen, Kategorisie­rungen und Sorten von “Feminismus” (vor allem die nordamerika­ni­schen habe ich verfolgt) entfaltet, definiert, publiziert und debattiert wurden. Ich habe das Wort im wesentlichen so benutzt, wie ich es 1974/75 in den USA kennengelernt hatte: Es stand für eine weniger radikale Richtung, als ich sie mir (damals) wünschte, sozusagen für einen traditionellen oder mainstream-Feminismus; allerdings konnte ich mich mit dem “sozialistischen” und dem “radical feminism” – das waren die damals in den USA diskutierten drei Großein­tei­lungen, die „big three“ – ebenso wenig identifizieren. Inzwischen kenne ich den “tradi­tio­nellen Feminis­mus” besser als damals und schätze ihn großenteils; im übrigen wäre – und das gilt inter­national – der heutige Feminismus nichts ohne den “alten” bzw. klassischen (der sich aber keineswegs überall und immer “Feminis­mus” nannte).

Mein damals (und oft auch heute) favorisierter Begriff war “Frauenbefreiungs­bewegung” – das war die Selbstbezeichnung der “neuen” Frauenbewegung: In der deutschsprechenden Schweiz nannte man sie schlicht “FBB”, in den USA hieß sie “women’s liberation move­ment” oder “women’s lib”, in Italien “movimento di liberazione della donna”, in Frankreich “mouvement de libération des femmes” usw. Demgegenüber galt “Feminismus” als ideolo­gieverdächtiger “Ismus”-Begriff wie “Sozialismus” und manche anderen “Ismen”, die man hinter sich gelassen hatte oder lassen wollte. Heute habe ich nichts dage­gen, mich “Femi­nistin” oder “feministisch” nennen zu lassen (ein großer Vorteil dieses Begriffs liegt darin, dass er ein Adjektiv erlaubt) oder selbst zu nennen – allerdings je nach Kontext und Gesprächspartner.

Die “autonome” Frauenbewegung, der ich angehörte, hatte keine festen, institutio­nali­sierten Organisationsformen bzw. war nicht auf traditionelle Weise organisiert, oder allen­falls selten; in der Regel verzichtete man auf rechtlich verbindliche Vereine (“e.V.”). Man war in dieser Bewegung beweglich, tauchte auf, wo man es für richtig oder nötig hielt, und dem Frauenzentrum anzugehören hieß nicht, dass man einem Verein beitrat, sondern dass man sich, zumindest potentiell, für alle wichtigen „Frauenfragen“ einsetzte. Daneben gab es die traditionellen Frauenverbände, die in den 1950er Jahren wieder aufgelebt waren, nach­dem das NS-Regime sie aufgelöst oder gleichgeschaltet hatte. Ich hatte nicht viel mit ihnen zu tun, was ich heute ein wenig bedauere, war aber Mitglied im Aka­de­mi­ke­rin­nenbund, der 1926 gegründet worden war, sich 1936 auflöste und 1949 wieder ent­stand (wie Christine von Oertzen das in ihrem schönen Buch von 2012 dargestellt hat).

Mein Verständnis von Feminismus oder Frauenbefreiungsbewegung war (und ist) eines, das nicht nur auf Gleichheit zielt, sondern auch und vor allem auf Freiheit, Selbstbestim­mung. Und warum erwarte ich mir von “Gleichheit” nicht so viel? Gleichheit mit den Män­nern ist, so meine ich, nicht das letzte Glück, was wir uns wünschen. Auch sind die Männer sehr unterschiedlich, nicht allen möchte ich gleichen. Und ich erinnere an ein Diktum der schwarzen Feministin Margaret Wright, einer US-Amerika­ne­rin, von 1970, das sich mir auf ewig eingeprägt hat und das Gerda Lerner in eines ihrer epochemachenden Bücher aufge­nommen hat (Black Women in White America, 1972, S. 608): “In black women’s liberation we don’t want to be equal with men, just like in black liberation we’re not fighting to be equal with the white man. We’re fighting for the right to be different and not be punished for it. […] I want the right to be black and me.” Was heißt also Gleichheit, wenn man nicht sagt, was dahinter steckt? Natürlich gleiche Rechte, aber man hat auch unterschieden, in den USA und anderswo, zwischen “equal rights” und “wo­men’s rights”. Frauenrechte in diesem Sinn müssen nicht exakt gleich sein wie diejenigen von Männern. Und so geht der später – in den 1990er Jahren – auftauchende Slogan “wo­men’s rights are human rights” weit hinaus über den älteren Slogan “human rights are women’s rights”. Mit anderen Worten: Wohl müssen “les droits de l’homme” auch für Frauen gelten, aber umgekehrt: Das, was Frauen brauchen, was für sie wichtig ist, muß ebenfalls als “Menschenrechte” gelten – weil Frauen Menschen sind und nicht nur Männer (so hat es auch schon Olympe de Gouges gesehen, in ihrer Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne von 1791). Für mich ist es also, wenn man Feminismus zu defi­nieren sucht, sehr wichtig, dass man nicht nur von “gleichen Rechten” wie diejenigen von Männern spricht – natürlich, gleiche Rechte und Chancen, das ist aber das Minimum. Aber darüber hinaus kann es noch man­ches andere geben. In vielen Berei­chen können die Interessen und die (bestehenden oder erhofften) Rechte für Frauen anders aussehen als bei Männern, man denke nur an Mütter und Mutterschaft, an sexualisierte Gewalt, Frauen­häuser oder Abtreibung.

Ich habe also nie nur auf die Gleichheit mit Männern geachtet, sondern auch auf die Diffe­renzen zwischen Frauen, zwischen Frauen und Männern und zwischen Män­nern. In den 70er Jahren war der große Slogan, jedenfalls in Deutsch­land: “Frauen ge­meinsam sind stark.” Das ist ein großartiger Slogan, weil er Diffe­ren­zen einschließt, nicht ausschließt – denn sonst hätte es ja gar keinen Sinn, auf Gemein­sam­keit zu pochen. Das Verhältnis zwischen Gleichheit und Freiheit und zwi­schen dem, wie du gesagt hast, “Wir-Gefühl” und den Differenzen ist komplex, und sie gehören immer zusammen.

Emanzipation

CR: Es gibt ja auch noch den Begriff der “Emanzipation” oder auch der “Emanze” als ver­ächtliche Form oder auch fröhliche Selbstbenennung (“ich bin eine Emanze”). Was hältst du denn von dem Begriff, der ja vom Wortsinn her – “eman­cipare”, sich befreien, Sklaven­befreiung – auch die Frage beinhaltet, wovon man sich befreit. Hast du den Begriff “Emanzipation” verwendet?

GB: Sozusagen mein letzter Aufschrei vor meiner Emeritierung war “Emanzipation”. In meiner Abschiedsvorlesung im Juli 2007 habe ich eine Geschichte des Begriffs “Frauen­eman­zi­pation” vorgetragen. Inzwischen ist sie als Aufsatz veröffentlicht (in meinem Buch Ge­schlech­ter­geschichten der Neuzeit: Ideen, Politik, Praxis, 2014). Die Parallele zur Skla­venemanzipation stimmt, aber bis um 1600 bedeutete das Wort nicht “sich befreien”, sondern “freigelassen werden” (ein großer Unterschied!). Ich habe gezeigt, dass dieser Be­griff für die Frauen im Deut­schen, aber weitgehend auch im Französischen und Englischen, erst seit den 1830er Jahren be­nutzt wurde. Vorher hat man den Begriff im wesentlichen nicht für Frauen be­nutzt. Eine kleine Ausnahme möchte ich aber nennen: das ist Mary Woll­stone­craft an einer (einzigen) unauffälligen Stelle ihrer Schrift A Vindication of the Rights of Woman (1792). Aber ansonsten kam der Begriff aus Frankreich, mit unheimlicher Explosionskraft, auch in Deutsch­land an, seit den 1830er Jahren und im Kontext der revolutionären Ereignisse von 1830 und 1848 und, in Deutschland, während des Vormärz. Seine Bedeutung hat dann ziemlich geschwankt, und deshalb kann ich, als bewusste Histo­rikerin, ihn nicht so einfach verwenden. Man weiß in Deutschland, besser als anderswo, dass Louise Otto-Peters, die erste Frau, die hier poli­ti­sche Mitsprache für Frauen öffentlich forderte (1848) und die erste “emanzi­pa­to­rische” Frauenorganisation gegründet hat (1865), sich deutlich gegen den Begriff “(Frauen-)Eman­zi­pation” ausgesprochen hat.  Und zwar deshalb, weil er seit den 1830er Jahren in Frank­reich fast ausschließlich für (hetero-)sexuelle Emanzipation benutzt wurde. Da kam also Sex ins Spiel, das fand sie nicht so fein. Sie war mehr für Bil­dung und Erwerbstätigkeit, glaubte, dass sich daraus alles Weitere ergeben werde und war damit nicht allein. Im Deut­schen (vielleicht aber auch in anderen Sprachen) hat der Be­griff die sexuelle Konnotation noch lange beibehalten; lange war damit ausschließlich Hetero­sexualität gemeint, heutzutage ist auch Homosexualität mit­ge­meint: Gleichsam als Symbol für “die Emanze” gilt heutzutage und hierzulande bekannt­lich Alice Schwarzer.

In meinem Aufsatz habe ich auch das Verhältnis der Frauenemanzipation zur Sklaven­emanzi­pation dargestellt, außerdem zur Judenemanzipation und Arbeiteremanzipation, die schon Mitte des 19. Jahrhunderts als zusammenhängend angesehen wurden. Und von “Emanzipation” religiöser Minderheiten sprach man nicht nur in Bezug auf Juden, sondern beispielsweise auch – im Vereinigten Königreich – auf Katholiken bzw. ihre rechtliche Gleichstellung: Das war die “catholic emancipation” von 1829.

2. Studium und “role models”

CR: Jetzt wollen wir zum Studium kommen und zu der Frage, ob du Vorläuferinnen kann­test oder weibliche Vorbilder hattest, die sogenannten “role models”, Professorinnen zum Beispiel.

GB: Ich hatte sie nicht in dem Sinn, wie in der Soziologie dieser Begriff benutzt wird. Erst­mal gab es in meinem Fach keine Professorinnen. Im übrigen konnten “role models” auch männliche Professoren sein: etwa der vorhin genannte Freiburger Ge­schichts­professor und seine Frau, die ebenso eindrucksvolle Lehrerin, oder aber mein “Doktor­vater”, der mich tief beeindruckte, und ebenso mein “Habilitationsvater” (und später Freund) Reinhard Rürup. In sol­chen Fällen konnte es allerdings gar nicht darum gehen, ihre “Rolle” nachzu­leben, und auch das Wort „Vorbild“ kommt mir nicht leicht über die Lippen. Jeden­falls habe ich auch von Männern sehr viel gelernt. Das gilt auch für meinen Mann, der tapfer und lernfreudig meinen Feminis­mus ertrug und mittrug, auch in radikaleren Phasen.

Vorbilder und andere Begegnungen

Erst lange nach dem Ende des Studiums, als ich voll in dem Gewerbe der Geschichts­wissen­schaft und insbesondere (aber nie ausschließlich) der Frauen- und Geschlechterfor­schung tätig war, gab es dann drei Personen, die mir zu außerordentlich wichtigen Vor­bildern wur­den: Das war zum einen die Amerikanerin Natalie Zemon Davis, die auf franzö­si­sche Geschich­te spezia­li­siert ist, und zwar in der Frühen Neuzeit, die aber auch sonstige europäische Geschichte be­treibt (einschließlich deutscher), außerdem außereuropäische, und die histo­rische Filme studierte und sogar selbst machte. Ungeachtet ihrer zahl­reichen methodischen Ansätze standen vielfach Frauen im Zentrum, und immer wieder gab es den Vergleich und die Interaktion zwischen Frauen und Männern. Natalie war begeistert von der Geschichte und deren Erforschung, konnte das auch weitergeben, und “histoire tout feu, tout flamme” war der Titel einer ihrer Autobiographien (2004), der mich besonders ansprach. Zweitens gab es da die wunder­bare Gerda Lerner, die in den USA – und über­haupt – zu den wichtigsten Pionierinnen der neue­ren “women’s history” gehört; für Natalie habe ich einst eine Laudatio verfasst und darin meiner Faszination Ausdruck verliehen (“Women and other Multiple Stories”, in: Annual of Medieval Studies at Central European University, Bd. 12, 2006), und für Gerda Lerner habe ich nach ihrem Tod einen Nach­ruf ge­schrie­ben (“Women’s History zwischen Amerika und Europa”, in: Geschichte und Gesell­schaft, Bd. 39, 2013). Beide waren Jüdinnen (Gerda floh 1938 aus ihrer Heimatstadt Wien und wurde US-Bür­gerin), und sie lebten ihr Jüdisch-Sein auf sehr unterschiedlich Weise. Beide habe ich auf der “Berks” von 1974 kennengelernt. Die dritte war die Norwegerin Ida Blom, die wich­tigste Pionierin der Frauen- und Geschlechterge­schichte für die skandi­na­vi­schen Länder, die aber weit darüber hinaus wirkte und auch Globalge­schichte betrieb. Mit ihr habe ich seit 1987, als ich vier Jahre lang am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz lehrte, in einem For­schungs­projekt kooperiert und gehörte im gleichen Jahr mit ihr zu den Gründerinnen der Interna­tional Federation for Research in Women’s History. Im Novem­ber 2016 starb sie, und ich habe einen Nachruf auf sie verfasst (“Ein Leben für die Frauen- und Geschlechtergeschichte”, in: L’Homme. Europäische Zeit­schrift für femini­sti­sche Geschichts­wissenschaft, April 2017). So führt nun die Frage nach “role models”, ange­sichts meines eigenen Alters, zum Ende des Lebens.

Vorhin hast du nach meinen Begegnungen mit anderen Frauen an der Freien Univer­sität während des Studiums gefragt. Da gab es zum Beispiel Sigrid Fronius, auf die du angespielt hast; ich kannte sie, wenn auch nur flüchtig. Sie war im AStA der FU, und auch ich habe mich hier engagiert. Mit dem AStA habe ich 1966 eine vierwöchige Reise nach Israel ge­macht (die erste von mehreren), bei der ich einige Wochen in einem Kibbuz gearbeitet habe. Zweck der Reise war, dass erstmals ein Kontakt zwischen deutschen und israelischen Studenten­verbänden aufgenommen wurde. Die Akteure des Kontakts waren alles Männer (obwohl in unserer deutschen Gruppe auch Frauen waren), und sie haben sich auch so benommen – das muss ich hier nicht ausführen, das war eine Gaudi mit unseren israeli­schen Kommilito­nen. Ich habe natürlich auch in meinem Studium und meinem Institut (dem Friedrich-Meinecke-Institut) viel mit Frauen zu tun gehabt. Da gab es zum Beispiel Adriane Feu­stel, die später die Schriften von Alice Salomon herausgab und das Alice-Salomon-Archiv an der Alice-Salo­mon-Fach­hoch­schule leitete; damals, Ende der 1960er Jahre, war sie an meinem Institut die erste, die eine Abschlussarbeit über ein “Frauen­thema” vorgelegt hat, nämlich über Frauen im Ersten Weltkrieg. Dann gab es während fast des gesamten Studiums und viele Jahre danach Barbara Duden, die später für die femi­ni­stische Zeitschrift Courage arbeitete und mit der mich lange Zeit vieles verband, und über sie lernte ich auch Karin Hau­sen kennen. Kurz nach dem Studium begann dann die Freund­schaft mit der Literatur­wis­sen­schaftlerin und Philosophin Irmela von der Lühe und mit der Politologin Ingrid Schmidt-Harz­bach. Von den Kommi­li­toninnen in meinem Institut gingen aber, mit Ausnahme von mir, kaum Ver­bin­dungslinien zum Frauenzentrum. Erst viel später, als ich nach Bielefeld kam, lernte ich Juliane Jacobi kennen, die Historische Päda­gogik, Geschichte und Theologie miteinander verband.

Was meine Studieninhalte betrifft, so habe ich sie teilweise schon angedeutet: von den italienischen “Sozialrebellen” und ihrem Verhältnis zu Religion und Philosophie im 16./17. Jahrhundert über einen sehr rebellischen Teil der amerikanischen Arbeiter­bewegung (die “Wobblies”) und die nordamerikanische Sklaverei bis hin zu rebellischen Frauen – ich habe immer, wo es möglich war, eine Art persönlicher Be­zie­hung zu meinen Studieninhalten gehabt oder aufgebaut (allerdings war das bei meinen späteren For­schun­gen über den Natio­nal­sozialismus meist nicht mehr möglich). Und dann ging es 1974 in den USA und 1975 in Berlin los mit meinem Engagement in der Historischen Frauenforschung – vieles davon kann man ja in meinen Publikationen nachlesen.

Berlin – Harvard – Florenz

CR: Möchtest du dazu einige Stationen nennen?

GB: Die erste war, in der Lehre am Kennedy-Institut, die Entstehung und Entfaltung der („alten“) amerikanischen Frauenbewegung, und in der Forschung war es die Geschichte der Haus­arbeit in den USA, vorgetragen bei einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien 1976 und kurz darauf noch einmal – ergänzt durch einen Text von Barbara Duden über Frauenarbeit im europäischen Ancien Régime – auf der ersten Som­mer­uni­versität; beide Texte wurden in der Dokumentation, dem “roten Buch”, abgedruckt (“Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit: Zur Entstehung der Haus­arbeit im Kapi­talismus”). An dem Thema habe ich noch weitergearbeitet, es aber dann beiseite gelegt, weil ab 1978 in den USA nacheinander drei Bücher zur Geschichte der Hausarbeit er­schienen sind; für eine Habilitationsschrift – ich hatte mich erst mit 32 Jahren zur Habi­li­tation und damit zu einer professoralen Laufbahn ent­schlossen – eignete sich das Thema also nicht mehr, jedenfalls nicht nach den damals geltenden (deutschen) Standards.

Außerdem trat ich nach dem Ende meines Arbeitsvertrags und einem Jahr Erwerbslosig­keit Ende 1977 eine neue Mittelbau-Stelle an. Sie war dem Nationalsozialismus gewidmet, und ich wählte als Schwerpunkt die Geschlechterbeziehungen jener Zeit. Und weil ich immer Wert auf den Kontext lege, stellte ich sie von Anfang an in den Kontext der natio­nal­sozia­li­stischen Rassen­politik (mit Rassismus und Rassen­politik hatte ich mich schon intensiv im Rahmen der amerikanischen Geschichte be­schäf­tigt). Für die Habi­li­ta­tions­schrift wählte ich zuerst die ausländischen Zwangsarbeiterinnen, also ein The­ma der Kriegszeit; dann entdeckte ich, dass es zu der Politik der Zwangssterilisa­tion, die schon 1933 begann, keine historischen For­schun­gen gab, und wandte mich diesem Thema zu; beide Themen betrafen Frauen ebenso wie Männer, und mein Interesse war eine geschlechtergeschichtliche Ana­ly­se. Daraus wurden das Buch mit dem Obertitel Zwangssterilisation im National­sozia­lismus, mit dem ich mich 1984 habilitierte (es erschien 1986 und wurde 2010 wieder aufgelegt), sowie man­cher­lei kürzere Beiträge. Bald darauf, auf meiner Pro­fessur für Euro­päische Geschichte am Europäi­schen Hochschul­institut in Florenz (1985-1989), wandte ich mich der Thematik “Frauen und Mutter­schaft in den europäischen Sozialstaaten seit den 1880er Jahren” zu, im Rahmen eines großen Projekts, an dem auch viele andere mitarbeiteten: Expertinnen und Experten für die Ge­schichte von sieben europäischen Ländern, insbe­son­dere für die Geschichte der Frauen­bewegungen, der Mutterschaft und der Sozialpolitik (ein Teil der Ergebnisse er­schien dann, in englischer Sprache, im Jahr 1991, bald auch auf Spanisch übersetzt).

An diesem Institut bei Florenz fühlte ich mich sozusagen rundum europäisch, konnte meine Sprachen benutzen und habe versucht, die Geschichte, insbesondere die Geschlech­ter­ge­schichte, möglichst vieler europäischer Länder zu begreifen, einschließlich der Zeit der euro­päischen Diktaturen.  In diesen Jahren habe ich auch viel Methodisches ge­schrie­ben, was in mehreren Sprachen erschienen ist (auf Deutsch hieß einer der Texte “Ge­schichte, Frauengeschichte, Geschlechter­geschichte”, 1988, auf Italienisch “Storia, storia delle donne, storia di genere”, ebenfalls 1988, und 1989 in der ersten Nummer der Zeit­schrift Gender & History: “Women’s History and Gender History: Aspects of an Inter­national Debate”). Schließ­lich kam das Buch über Frauen in der europäischen Geschichte, das viel­leicht mein bekanntestes geworden und in acht Sprachen erschienen ist. Vieles davon war Ergebnis eigener Forschungen, aber für dieses breite Thema konnte ich natürlich noch viel mehr heranziehen, was andere erforscht hatten.

Auch außerhalb der Geschlechtergeschichte habe ich geforscht, und am bekanntesten sind von diesen Studien diejenigen über den Florentiner Niccolò Machiavelli (1986, 1990) sowie ein Sammelband über Friedrich Meinecke und eine Edition seiner Briefe (2006, 2012). Kürzlich habe ich dann mein letztes Buch ver­öffent­licht: Geschlechtergeschichten der Neuzeit: Ideen, Politik, Praxis (2014). Das ist eine Sammlung verschiedenster Aufsätze, vom Spätmittelalter bis zum 21. Jahrhundert. Einige davon sind neu (z.B. die schon erwähnte Begriffsgeschichte von “Frauenemanzipation” oder eine transnationale Darstellung der nationalen Wege zum Frauenwahlrecht), andere sind erstmals aus dem Englischen ins Deutsche übertragen, und wieder andere sind einfach erneut abgedruckt.


3. Die Sommeruniversität für Frauen 1976

CR: Wir wenden uns jetzt der ersten Sommeruniversität für Frauen im Juli 1976 zu. War diese Sommeruni ein Ort der Befreiung? und zwar – so habe ich das genannt – für unkon­ventionelles, interdisziplinäres Denken? Es stand ja damals so ein Anspruch im Raum, und wenn man die Dokumentation der Sommeruni betrachtet, so sind da in der Tat verschie­dene Fachrichtungen vertreten – aber war das tatsächlich so?

GB: Vielleicht greife ich zuerst einmal den Begriff auf, den du vorhin ins Spiel gebracht hast: “Einwanderinnen in die Hochschulkultur”. Ich finde das treffend und sehr pittoresk, aber ich könnte dem etwas entgegensetzen beziehungsweise es umgekehrt formulieren: “Aus­wanderinnen aus der Hochschulkultur”. Wir wollten nicht nur rein, sondern wir wollten eben nicht rein unter den Bedingungen, wie sie bis dahin existiert haben. Wir haben diese Kultur (was immer man im einzelnen damit meint) gleichzeitig umkrempeln wollen. Wir: Damit meine ich jetzt sowohl die Sommeruni als auch die Aktivitäten drum herum, etwa all die Mitglieder dieser Dozentinnengruppe, die natürlich nicht immer nur Sommeruni mach­ten – das war ja nur eine knappe Woche, dann bewegten wir uns wieder an unserem Arbeits­platz. Von dem, was wir 1976 wollten, war schon – im Ansatz we­nig­stens, aber längst noch nicht ausreichend – klar, was es für Forschung und Lehre heißen kann: nämlich die Frauen ins Spiel zu bringen oder gar ins Zentrum des Erkenntnisinter­es­ses zu stellen. Aber was heißt „Frauen“? gewöhnlich meint man damit nur erwachsene Men­schen, Mäd­chen haben einen eigenen Begriff, und an alte Frauen denkt man zu aller­letzt. Mit “Frauen” in unserem Sinn sollten alle, sollte das weibliche Geschlecht verstanden werden. Jeden­falls sahen wir uns einer “Wissenschaft” gegenüber, die von Männern ge­tra­gen wurde, die Aufstiegschancen und Stellenbe­setzun­gen größtenteils für Männer reser­vierte und die auch in ihre Inhalte und Fragestellungen Frauen entweder nicht einbezog oder aber sie auf inakzeptable Weise einbezog, ent­spre­chend den Vorurteilen, die sich aus männlicher Perspektive ergaben (etwa ihre Reduktion auf “Biologie” oder auf sonstwie bedingtes “Anders”-Sein). Eine nicht vorhandene oder unzulängliche Befassung der Wissen­schaft mit Frauen war das Objekt unserer Kritik, und ändern wollten wir das selbst, wollten es nicht den real existierenden Wissenschaftlern in die Hände legen.

Das hielten wir in der Tat für emanzipatorisch und befreiend. Dass die erste Sommeruni – oder alle sieben Sommerunis zusammen, 1976 bis 1983 – ein “Ort der Befreiung” gewesen sei, das trifft also in einem gewissen Sinn sicher zu. Wir konnten das, was wir für intellek­tuell, für wissenschaftlich richtig hielten, präsentieren und dis­kutieren und uns dabei selbst finden – aber die große Freiheit war das nicht unbedingt, diese einwöchige Veran­staltung, die durchaus auch in konventionellen Formen ablief, eben Vorträgen und Debatten (aller­dings lässt das überlieferte Programm gar nicht erkennen, wie umfangreich der Debatten­teil war). Aber es ging in erster Linie weniger um solche Formen, sondern darum, neue, wirklich oder potentiell unerhörte Inhalte vorzutragen, neue – unsere – Fragen und For­schungsergebnisse.

Women ask the questions!

In meiner damaligen Einführung zur Sommeruniversität (sie ist auf dieser Website zu finden) habe ich die Notwendigkeit von Interdisziplinarität für Frauenstudien betont, jedenfalls als Zu­kunfts­projekt, in dem Sinne, dass so gut wie alle Disziplinen für diese innovativen For­schun­gen relevant seien. Gleichwohl war für mich das Interdisziplinäre – für das man sich im übrigen in mindestens zwei Disziplinen gut auskennen muss! – an dieser Stelle nicht vorrangig; wichtiger war mir die Wissenschaftskritik. Mir ging es darum, mit meinem Beitrag und auch mit den Beiträgen von anderen, wie sie größten­teils in dem “roten Buch” do­ku­mentiert sind, das von der “Gruppe Berliner Dozentinnen” heraus­gegeben wurde (Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen, Juli 1976, Courage Verlag 1977), wichtige Dinge auszu­sprechen und zu hören – Fragen, die bisher noch nicht gestellt wurden oder nicht gestellt werden konnten. Und noch nicht im selben Maß ging es mir darum, dass verschiedene Disziplinen systematisch koope­rieren. Fast alle jene Beiträge stammten aus oder operierten mit einer oder zwei “Diszi­pli­nen”, dabei handelten zehn von 21 explizit von der Geschichte, der Vergangenheit der Geschlech­ter­beziehungen, ihrem Wandel und ihrer Wirkung bis heute. Sie kamen eben aus unserer disziplinären Erfah­rung in For­schung und Lehre. Aber diese unterschiedlichen Erfahrungen wurden alle in diesem ein­wö­chigen Ereig­nis zusammengeführt, antworteten auf gemeinsame Fragen und konstituierten somit eine gewisse Art von Interdisziplinarität, wenn auch nicht eng verschränkt und ver­flochten.

Das Charakteristische und aus meiner Sicht auch Umwälzende an der Sommeruni kann ich mit dem Titel eines eindrucksvollen amerikanischen Buchs über die Entstehung und die Entfaltung der Frauen- und Geschlechterforschung benennen, verfasst von Marilyn Jacoby Boxer, einer Historikerin und Frauenforscherin der ersten Stunde sowie lebenslangen Aktivistin der “women’s studies”: When Women Ask the Questions (1998). Sie eröffnet das Buch mit einem Zitat der Dichterin Adrienne Rich: „Wir sind nicht die ‚Frauenfrage‘, die andere stellen; sondern wir sind die Frauen, die Fragen stellen“ (“We are not ‘the woman que­stion‘ asked by somebody else; we are the women who ask the que­stions“). Dies scheint mir entscheidend auch für die Sommeruni: Frauen stellen die – ihre – Fragen (auch wenn die Ergebnisse noch ungewiss sind oder divergieren mögen), und die aufgeworfenen Fragen wurden von Frauen gestellt (auch wenn diese sehr unter­schied­lich sein mochten). In der “Sommeruni für Frauen” wurden neue Fragen gestellt, und (alle) Frauen konnten Fragen stellen – ein absolutes Novum in der akademischen Welt –, Fragen, die dann zum Teil erst in vielen kommenden Jahren beantwortet wurden. Beispielsweise wurde hier das Thema “Frauen und Nationalsozia­lismus” eröffnet: mit Annemarie Trögers Kritik an der “Dolch­stoßlegende der Linken: ‘Frauen haben Hitler an die Macht gebracht’” und mit ihrer Arbeits­gruppe über Oral History.

Fragen sind also mindestens genauso wichtig wie Antworten, und solches Fragen selber kann schon ein “Ort der Befreiung” sein. Denn man muss Worte dafür finden, die nicht vorgegeben sind und die man er-finden, erläutern, entfalten muss. Trotzdem sollen die Antworten hier nicht heruntergespielt werden: Denn uns ging es um Suche nach Erkennt­nis, nach Realitätsnähe und gar Wahrheit – zumal angesichts der vielen irreführenden Dinge, die über Frauen, Männer und Geschlechterbeziehungen im Schwange waren und sind – und auch wenn Begriffe wie “Erkenntnis” und “Wahrheit” heutzutage, nach Jahren von Dekon­struktions- und Relativierungswahn, nicht mehr der Mode entsprechen.

Ich würde auch Wert darauf legen, die sieben Sommeruniversitäten als verschieden zu sehen. Ich kenne sie nicht alle so gut wie die ersten beiden, in denen ich sehr aktiv war, denn ich war in den folgenden Jahren sehr mit meiner Habilitationsschrift beschäftigt; sie wurde genau zur Zeit der letzten Som­mer­uni fertig. Aber nach dem, was ich an Doku­men­tationen und Berichten gelesen und gehört habe, sind die Sommer­uni­versitäten doch recht unter­schiedlich verlaufen: jede im Vergleich zur vorigen und alle im Vergleich unter­einan­der. Sie hatten natürlich einen gemeinsamen emanzipatorischen Schub, aber das Verhältnis von Ähnlichkeiten und Differenzen sollte genauer be­stim­mt werden, ebenso wie die Frage: warum ging es dann, nach 1983, nicht weiter?

All das ist noch nicht erforscht (gegenwärtig ist aber einiges im Gange), und ich will dazu einige Überlegungen anstellen. Erstens: Die Disziplinen waren nicht immer so einfach zusammenzuführen, und das Engagement richtete sich oft zunehmend auf die eigene Dis­ziplin, in der man arbeitete. Wir Historikerinnen befassten uns anschließend in stärke­rem Maß mit der Geschichtswissenschaft, und es gab ab 1978 eine Sequenz von sogenannten Historikerinnentreffen (auch wenn sie durchaus anderen Disziplinen offenstanden, zumal wir alle ja auch Interesse an Interdisziplinarität hatten, soweit sie uns möglich war – aber man hat ja nur ein Leben). Sie zielten auf die Geschichtswissen­schaft. Etwa zur gleichen Zeit haben sich Soziologinnen organisiert, in hohem Maße, und sie waren organi­sa­torisch viel effizienter als die Historikerinnen (die “Sektion Frauen- und Geschlechter­forschung” gab es innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Soziologie schon seit 1978, während die feministischen Historikerinnen sich erst 1990 organisierten und dann, bis 2002, nicht einmal in einem formal strukturierten Verein und schon gar nicht innerhalb des Historikerverbands). Das waren also durchaus disziplinär orientierte Ent­wicklungen (wenngleich sich auch Soziologinnen oft als Historikerinnen betätigten und die Historike­rinnen sich bei der Soziologie bedienten).

Ein zweiter Grund dafür, dass es später keine Sommerunis mehr gab, sehe ich in Folgen­dem: Eine gewisse Form von Radikalität steigerte sich bis zur letzten Sommeruni 1983: Zuneh­mend wurden Strukturen wie Vorlesungen und Seminardisziplin abgelehnt, Spon­taneität stand im Vordergrund, und der Öffnung für Teilnehmerinnen weit über die uni­versitäre Dimension hinaus entsprach die Nachfrage, die Tausende auch von außerhalb Berlins an die Freie Universität führte. Doch diese Radikalität bröckelte dann doch allmäh­lich ab. Bedenkens­wert ist ferner, dass kurz nach der 7. und letzten Sommeruni auch die Zeitschrift Courage ihr Erscheinen ein­stellte (1984) – die Zeiten hatten sich geändert.

Die Initiatorinnen

Ich will an dieser Stelle noch einen Gedanken dazuschieben: Woher kommt sie, diese erste Sommeruni? Sie war ein hochoriginelles Produkt der Berliner Dozentinnengruppe oder auch der Berliner Szene, die sich mischte aus Frauenbewegung und akademischem Inter­esse oder Berufstätigkeit – auch wenn viele von uns schon bald wieder erwerbslos wurden (bei mir war es am Ende des Sommersemesters 1976). Und sie ist auch nicht gleichzu­setzen mit dem, was derzeit in den USA vor sich ging. Als am ähnlichsten wäre dort noch die interdisziplinäre “National Women’s Studies Association” (NWSA) zu nennen, ge­gründet 1977; bei deren Konferenz 1981 hielt die schwarze Dichterin Audre Lorde die Keynote Speech, in der sie darauf bestand, dass Feminismus anti-rassistisch sein müsse. Nicht zu verwechseln damit ist die Berkshire Conference on Women’s History (seit 1974), die wiederum ein ganz anderer Typus ist; sie hatte sich aus der schon fast fünfzig­jährigen Ge­schichte der Berkshire Conference of Women Historians entwickelt, die sich vorher nicht auf Frauengeschichte konzentriert hatte.

Einige von den Begründerinnen der Sommeruni waren den Vereinigten Staaten sehr verbunden: der dortigen Frauenbe­we­gung, der akademischen Welt oder auch dem Land selbst. Darunter war auch ich: Gerade war ich von dem einjährigen Aufenthalt in Harvard zurückgekommen, war bei der “Berks” von 1974 gewesen, die in Cambridge, MA, statt­ge­fun­den hatte (und bald hielt ich bei der NWSA einen Vortrag über meine laufenden For­schungen, der zu meiner ersten amerikanischen Publikation führte). Hanna-Beate Schöpp-Schilling, Literaturwissenschaftlerin für die USA, sprach über “Produktions- und Rezep­tions­bedingungen amerikanischer Schriftstellerinnen” und die Soziologin Dagmar Schultz über “Sexismus in der Schule”. Auch zwei Amerikanerinnen waren unter uns: die Sozio­login Carol Hagemann-White (sie präsentierte ihre Gruppe und ihr Projekt “Zur Situation der Hausarbeit heute”) und die Historikerin Mary Nolan sprach über “Proletari­schen Anti-Feminismus” in Deutschland um 1900. Inspiration aus den USA gab es also reichlich, aber gleichwohl war diese erste Sommer­uni eine deutsche – oder besser: eine Berliner – Origi­nalität.

Die Sommeruni hatte aber noch eine weitere Wurzel, die so gut wie nicht erforscht ist. Bekanntlich entstand die neuere Frauenbewegung teilweise aus der vorangegangenen Studenten­bewegung, wenn auch keineswegs als deren Wurmfortsatz (so sehen es manche zu Un­recht). Man pflegte links zu sein, die Älteren waren schon in dieser Bewegung gewe­sen und hatten sich auf unterschiedliche Weise von ihr abgesetzt. Diese Bewegung hatte 1967/68 in Berlin eine Ausdrucksform gefunden, die ”Kritische Universität” hieß. Da haben die Jungs – es waren hauptsächlich Jungs – die Formen der Universität, Vorlesungen, Seminare, work­shops, dazu benutzt, um ihre Kritik an Universität und Wissen­schaft sowie ihre eigenen politischen Interessen zu artikulieren. Diese Aktion dauerte zwei bis drei Seme­ster, wurde in einigen anderen Universitätsstädten übernommen, und auch diese Akti­visten wollten die Universität umkrempeln; viele von ihnen waren bekannte Ver­treter der Neuen Linken, Frauen gab es meines Wissens nicht darunter. Und über Ge­schlech­ter­bezie­hungen wurde hier nicht debattiert – außer gelegentlich über Visionen einer “sexuellen Revolu­tion” aus Männersicht. Ich meine, dass diese “Kritische Universität” einen gewissen Einfluss auf die spätere Sommeruni für Frauen hatte, jedenfalls für die älteren unter den Organisa­torinnen. Und das ungeachtet der Tat­sache, dass die Frauen­bewegung, wie sie dann um 1970 sichtbar entstand, sich keineswegs auf eine linke oder die Studentenbewegung redu­zieren lässt.

Disziplinen und Interdisziplinarität

CR: Zur Interdisziplinarität: Ich sehe es so, dass sie auf der ersten Sommeruni noch nicht im Zentrum stand, sondern dass, wie du sagst, der Anspruch vorherrschte, im eigenen Fach zu wirken. Bei den späteren Sommerunis stand das Wilde und Unkonventionelle im Vor­der­grund: Es wurde ja nicht berufen oder ausgewählt, wer vortragen durfte, sondern es konn­ten sich im Grunde alle melden, und nur zum Schluss, wenn es nicht in ein großes Thema reinpasste, wurde auch mal aussortiert und jemand konnte nicht vortragen. Auch waren die Teilnehmerinnen dann zunehmend nicht mehr “nur” Wissenschaftlerinnen mit einem internen Fachanspruch, sondern es waren oft ganz praktische und politische Fragen oder Konzepte, die dort verhandelt oder vorgestellt wurden – in einer unendlichen Band­breite, das ganze Leben betreffend.

GB: Trotzdem möchte ich betonen, dass gerade die beiden ersten Sommerunis eminent politisch waren und gleich­wohl eine akzep­table oder jedenfalls zeitgemäße Balance zwi­schen Politik und Wissen­schaft, zwischen inner­univer­sitärer und außeruni­ver­sitä­rer Welt herstellten; die zweite Sommeruni hatte sogar eine eindeutig sozialpolitische Frage­stel­lung:  “Frauen als bezahlte und unbezahlte Arbeits­kräf­te”. Ich selbst habe bei der Eröffnung von 1976 über “Die politische Bedeutung der Sommer­uni­ver­sität für Frauen” gesprochen, und dieser Text – er wurde, anders als die anderen Bei­träge, im Vorfeld von der Dozen­tin­nengruppe diskutiert – ist zu Beginn der Dokumentation abge­druckt. Ich habe ihn jetzt abgetippt und mit Kom­men­taren in der Form von Anmer­kungen versehen; es ist also eine Neuedition, und sie ist auf dieser Website einzusehen.

CR: Ich finde es gut, dass du das Fragen so sehr betont hast, damit hängt ja auch das In-Frage-Stellen zusammen. Dass man also das, was von den Autoritäten der Fächer als selbst­ver­ständlich vorgestellt wurde, in Frage stellen konnte. Und was ich jetzt, im Nachhinein, bedauere, ist, dass wir nicht genügend interdisziplinär gearbeitet haben. Ich jedenfalls habe mich (das war dann ein paar Jahre später) auf Gebiete wie Evolutions­biologie gewagt – wofür ich auch Prügel eingesteckt habe, von Biologinnen, die ihre Fächergrenzen sehr stark verteidigen wollten. Ich glaube, dass wir sogar unsere eigenen Aufsätze nicht gegenseitig gelesen haben, diejenigen in der Dokumentation der ersten Sommeruni. Ich habe Euern Aufsatz, von dir und Barbara Duden, im Nachhinein gelesen, finde es aber schade, dass ihr meinen Allegorien-Aufsatz nicht gelesen habt, denn von der Kunst­geschichte kommen auch viele Bilder vom Ewig-Weiblichen oder der beliebig füllbaren Hülle des weiblichen Körpers.

GB: Doch, ich habe ihn sehr wohl gelesen – aber erst nach der Sommeruni, denn unsere Beiträge wurden ja erst zur Eröffnung fertig, und vor der Drucklegung haben wir sie alle nicht ausgetauscht. Außerdem schätze ich ihn bis heute.

4. Sommeruni und Frauenzentrum

CR: Was hat dir das Frauenzentrum bedeutet?

GB: Das Frauenzentrum, gelegen in der Hornstraße in Kreuzberg, entstand 1973, war das erste deutsche Frauenzentrum und wurde von ca. 120 Frauen gegründet, zu denen auch ich gehörte; ab Ende März war es geöffnet. Es war mir von Anfang an lieb und teuer, und ich kam nicht über eine Gruppe, sondern über einen noch früheren Frauentreffpunkt dazu: einen, der seit Ende 1971 existierte und sich im “Soziali­sti­schen Zentrum” in der Stephan­straße (Moabit) einen Raum erobert hatte, von wo aus Aktivitäten organisiert werden konnten. Hier gab es beispielsweise Karatekurse im Kontext feministisch orientierter Selbstverteidigung, an denen ich teilnahm.

“Knastgruppe”

Im „Laden“,so nannten wir die Räume in der Hornstraße war allerdings sehr viel mehr los. Es gab viele Gruppen, darunter die „Ladengruppe“, die das Zentrum organisatorisch in Gang hielt. Von einigen Gruppen habe ich auch noch sehr interessante Protokolle, in denen von ihren Gesprächen und Aktivitäten berichtet wird, dem Ringen um politische oder gar theore­ti­sche Konzepte, auch die eigene Zukunft betreffend. Ich selbst war in mehreren Gruppen, darunter die sog. “Knastgruppe”, in der auch du warst, und wir haben zusammen mit anderen einen Hungerstreik inszeniert, der den Hungerstreik von Frauen im Frauengefängnis Lehrter Straße unterstützen sollte. Aber die Problematik ging darüber hinaus: zur Behandlung von Frauen in Gefängnissen überhaupt. Es ging keineswegs etwa um die “RAF”, sondern um frauenspezi­fi­sche Strafprozesse und Justizvollzugsanstalten; entstanden war die Gruppe anlässlich des Falls der (heutzutage kaum mehr bekannten) “Kindsmörderin” Paula Weiß, und in dem Streik ging es um „Fliegengitter“, die isolierende Vergitterung von Zellenfenstern. Kindsmord ist eine Frauensituation, die schon seit Jahrhunderten von Justizbe­hörden verfolgt und unterschiedlich beurteilt wird und deren Bestrafung Aufklärer (wie Kant) unter bestimmten Bedingungen gemildert sehen wollten (wegen eines wachsenden Verständnisses für diese Situation). Will man sich den Stellenwert dieser Situation und unseres Engagements ver­ge­genwärtigen, so ist ein Rückblick auf die klassische (“alte”, erste) Frauenbewegung nützlich: Gerade in ihren Anfängen im 19. Jahrhundert spielten Gefängnisreform und das Engagement für gefangene Frauen eine große Rolle, sowohl in Europa, vor allem den Län­dern Westeuropas, wie in den USA, und wenn es damals auch den Begriff “Feminismus” noch nicht gab, so können doch die Pionierinnen Dorothea Dix, Elizabeth Fry und Josephine Butler heute durchaus als Femi­nistinnen gelten. Auch wenn ich die historische Dimension dieser breitenwirksamen Bewegung damals noch nicht kannte (all das wurde erst später erforscht), standen wir doch in einer guten Tradition.

218-Gruppe diskutiert Lohn für Hausarbeit

GB: Am deutlichsten erinnere ich mich an die sog. “218-Gruppe”. Es war die Zeit, als um die Entkriminalisierung von Abtreibung gekämpft wurde. Mein Engagement führte aber nicht dazu, dass ich mich, wie andere, öffentlich bezichtigt hätte: “ich habe abgetrieben”.  Viel­mehr vertrat unsere 218-Gruppe den Slogan: “Kinder oder keine entscheiden wir alleine”, und er verbreitete sich schnell. Wenn man diesen Slogan zu einem Konzept ausfaltet (was wir natürlich taten), bedeutet es durchaus etwas anderes als schlichte “Abtreibungs­freiheit”,  “Freiheit für Abtreibung”. Gegenüber dem Pathos, mit dem zuweilen solche “Frei­heit” als frauenspezifische und weibliche Freiheit definiert wurde, hatten wir Bedenken (wir: das war ein Dutzend Frauen, mit denen ich viele Jahre lang zu tun hatte und befreun­det war, darunter auch einige Historikerinnen). Inter­essanterweise haben wir gerade in dieser 218-Gruppe, von der so manche/r denken mochte, “die wollen nur noch abtreiben”, tatsächlich über die unbezahlte Arbeit von Frauen im Haushalt diskutiert, einschließlich der Arbeit an den Kindern, und haben uns mit der For­derung nach “Lohn für Hausarbeit” beschäftigt. Wir haben dabei das Buch Die Macht der Frauen und der Umsturz der Gesell­schaft gelesen, das ich übersetzt und vorhin genannt habe (erschienen 1973, im Jahr der Gründung des Frauenzentrums). Diese Schrift war eine Auseinandersetzung mit der Linken in dem Sinn, dass nicht die Fabrik und damit die Lohnarbeit der Kern der (kapitalistischen) Gesellschaft sei – wie die klassische Linke argumentiert –, sondern das Haus und der Haus­halt, die Stadt oder der Stadtteil, wo die gesellschaftliche (Ware) Arbeitskraft durch unbe­zahlte Frauenarbeit produziert und regeneriert wird. Diese Attacke auf die Linke hat damals viele fasziniert, und die Analyse wurde weithin rezipiert. Es handelte sich um den Hauptwiderspruch, den wir der Linken, welche die Ge­schlech­terbezie­hungen für einen Nebenwiderspruch hielt, entgegengesetzt haben. Damit verbunden oder daraus ab­geleitet war die Forderung nach Lohn für Hausarbeit; sie ging grundsätzlich davon aus, dass keine gesellschaftlich notwendige Arbeit unbezahlt bleiben sollte, auch nicht die häus­liche Arbeit – und zwar unabhängig davon, wer sie tut. Die Forderung hieß also nicht “Haus­frauenlohn”, sondern “Hausarbeitslohn”, was Männer nicht ausschloss, aber diese Forderung wurde in geringerem Maße rezipiert als die umfassendere theoretische Analyse. Was allerdings (mindestens) zwei Jahrzehnte erfolgreich war – ein Erfolg der Frauen­be­wegung –, war, dass man zunehmend auch die innerhäusliche und familienbezogene Tätigkeit “Arbeit” nannte, während das, was bisher fast ausschließlich als Arbeit galt, nun “Erwerbstätigkeit” genannt wurde.

Heutige Debatten

Heutzutage, genauer: seit etwa zwanzig Jahren, spricht man in zunehmendem Maß von “care work” (auch auf Deutsch) oder “Sorge-Arbeit”.  Eine reduzierende Variante davon ist das immer häufiger an Stelle von “Arbeit” benutzte Wort “Sich-Kümmern”: ein zusätzlicher Indikator dafür, dass jener Sprachwandel wieder rückgängig gemacht wird (die Akteure dieser Rolle rückwärts sind durchaus erkennbar). Zu dieser Art von Frauenarbeit – an Kin­dern, Alten, Kranken, in und außerhalb der Familie – gibt es inzwischen eine breite wissen­schaftliche Forschung und Debatte. Ich will sie hier nicht weiter thematisieren, weise nur darauf hin, dass ungeachtet von Sprach- und Wahrnehmungswandel ebenso wie dem deut­lichen Wandel in der Realität häuslicher Arbeit (die “Hausfrau” ist längst nicht mehr eine opfer­bereite, unterwürfige Figur) das schlichte Putzen größtenteils immer noch Frauen­arbeit ist (privat wie kommerziell). Hervorzuheben ist auch, dass Tätigkeiten wie Ein­kau­fen und Kinderver­sorgung heutzutage oft nicht ohne Führerschein und nur mit beträcht­li­chen sonstige Manager-Qualitäten zu bewältigen sind.

Wenn heute immer stärker der Ruf nach außerhäuslicher Kindererziehung ertönt – damit die Müttter ebenfalls außerhäuslich “arbeiten gehen”, weil sie angeblich bisher nicht gear­bei­tet haben –, dann müsste gleichzeitig auch ein weiterer Ruf ertönen: nach guter Be­zahlung dieser Arbeit. Denn nur auf dieser Grundlage kann in Kindergärten und ähnlichen Anstalten hochqualifizierte Erziehungsarbeit erwartet werden, und erst recht dann, wenn die Kinder einen Migrations- oder Flüchtlingshintergrund haben. Vielleicht werden wir einmal – und zwar lange, bevor auch Väter in größerem Umfang die unbezahlte Arbeit an Kindern übernehmen – viele Mütter sehen, die in außer­häuslichen Anstalten auch ihre eigenen Kinder versorgen, denn lediglich außer Haus scheint diese Arbeit als Arbeit zu gelten und somit bezahlt zu werden (am liebsten natürlich mit Minimal­löhnen) – mit Ausnahme von privat organisierten “Tagesmüttern”.

Weitaus großzügiger ist man heut­zutage – jedenfalls in der Theorie, in manchen Ländern auch schon in der Praxis – mit dem Konzept von “bedingungslosem Grundeinkommen”, also von arbeitslosem Einkommen, wie es bisher nur die höchsten Berufsklassen haben. Es wird (fast) weltweit diskutiert, jedenfalls in westlichen Ländern, aber ohne jeglichen Bezug zu häuslich arbeitenden Müttern und anderen Frauen, sondern stattdessen bezogen auf “Arbeitslose” und implizit auf Männer. Inter­essant ist auch, dass man, will man Männer zu einer geschlechtergerechten Über­nahme von Haus- und Kinder­arbeit bewegen, sie heutzutage mit Geld lockt: das gilt als “progressiv”, aber Geld für die häusliche Arbeit von Frauen gilt meist als “reaktionär”.

Als den einschneidendsten Wandel sehe ich den folgenden, der ebenso wie “care work” viel diskutiert wird: Frauen, die heutzutage – großteils in der Folge der Frauenbewe­gung – zu Erfolg, Karriere und Emanzipation vorangeschritten sind, hätten das nicht ohne Haushalts­hilfe bewältigen können. Die große Mehrheit dieser kostbaren Hilfen kommt heute aus dem Ausland – in Deutschland sind es oft Polinnen oder andere Frauen aus Ostmitteleuropa, in Italien sind alle Nationalitäten von Polen bis zum Balkan vertreten, aber keine (Nord-)Ita­lie­nerin würde einen solchen Job mehr ausüben. Und in den USA werden diese Arbeiten von schwarzen oder hispanischen Frauen gemacht. Auch wird die Pflege oder wenigstens Ver­sorgung von Alten und Kranken in deren eigenem Heim Ausländerin­nen anvertraut, zu denen durchaus auch schon viele von außerhalb Europas gehören; an die Stelle von Ange­hörigen der eigenen Familie oder des Altersheims tritt also eine privat finanzierte Kraft als neue Form der Altenpflege. Diese neuen Formen der Versorgung sind oft riskant und illegal in dem Sinn, dass sie an der Steuer und Versiche­rung vorbeigehen. Das Entscheidende sehe ich nicht darin (wie man manchmal hört), dass hier Frauen Aus­beu­tung gegenüber Frauen praktizieren, ihr Leben auf ungerechtfertigten Privilegien auf­bauen, sondern in der Frage: Wie gut sind die Arbeitsbedingungen und wie hoch ist die Be­zah­lung? Ich kenne Fälle, in denen sehr gut bezahlt und behandelt wird – man weiß ja, was man an der “Perle” hat, und oft genug kündigt sie, wenn sie eine bessere Stelle findet. Vie­lerorts – vor allem in den USA – ist die private “Nanny” eine hochbezahlte Expertin, die ihren eigenen Marktwert bestens kennt. Diese neuen Erfahrungen kommen hinzu, wenn man die private Dimension des Haushalts mit der Frage von Geld und Lohn zusammen sieht (die Frage von Dienstboten und –botinnen ist ja schon eine alte und ihr Wandel vom 19. zum 20. Jahrhundert ist schon gut untersucht).

CR: Unter emanzipatorischen Gesichtspunkten stellt sich aber trotzdem eine Frage, die sich auch schon früher gestellt hat: Manche Frauen haben sich entschieden, lieber erwerbstätig zu sein und das verdiente Geld an eine Haushaltshilfe weiterzugeben, weil ich dadurch mehr an Welthaltigkeit erlebe, und zusätzlich hat dann noch jemand anders einen Arbeits­platz.

GB: Man kann es auch umgekehrt formulieren bzw. mit einem Beispiel: Keine Professorin oder Frau in einem ähnlichen Beruf kann diesen bewältigen, wenn sie auch ihren Haushalt selbst bewältigen will. Ich halte also die Einstellung einer Haushaltshilfe für durchaus legitim, auch im Sinn von Geschlechtergerechtigkeit – voraus­gesetzt, die Bezahlung und Behandlung “stimmt”. Im Grundsatz ähnlich, wenn auch extrem selten, ist immer noch die Einstellung eines männlichen Hausgehilfen durch eine Karrierefrau – in der Praxis ent­wickelt sie jedoch eine gänz­lich andere Dynamik.

Frauenbewegung: kein Produkt der “68er”

CR: Ich hätte noch eine Frage. Cristina Perincioli hat 2015 ein Buch über die Anfänge der Berliner Frauenbewegung publiziert (Berlin wird feministisch) und hat als Untertitel formuliert: Die Frauenbewegung sei “Das Beste, was von der 68er Bewegung blieb”. Kannst du den Satz unterstützen oder hättest du eine Einrede?

GB: Es ist ein schöner Satz, und er ist provokativ, so dass man sich gut mit ihm auseinan­der­setzen kann. Wenn ich ihn ganz wörtlich nehme (oder ihn vertreten müsste), hätte ich in der Tat einige Einwände. Erstens betrifft das die Zahl “68”. Das haben wir vorhin schon problematisiert, denn die Zeit jener Bewegungen, an erster Stelle der Studentenbewegung, fing schon früher an, in Berlin spätestens Mitte der 60er Jahre (mit der Universitätspolitik der Zwangsexmatrikulation 1965, in der ich mich engagierte, oder der großen Vietnamde­mon­­stra­tion 1966, und natürlich der Ermordung von Ohnesorgs). Und was mein eigenes Leben betrifft, so reicht die Aufmüpfigkeit – die ich sehr wohl mit meinem später explizit feministischen En­ga­ge­ment in Zusammenhang bringe – noch weiter zurück, bis in die Zeit, die ich vorhin “die Heraus­bildung des politischen Menschen” genannt habe, jedenfalls bis in die 50er Jahre. Deshalb be­zweifle ich, dass es die 68er-Bewegung, die doch als Neue Linke definiert ist, gewesen sei, die das in Gang gesetzt und so stark prägt hat, was Cristina Perincioli hier meint. Nebenbei: Cristina ist 1968 nach Berlin gekommen, da war ich schon seit fünf Jahren hier und habe diese Jahre sehr bewusst erlebt.

Zweitens möchte ich unterstreichen: Auch wenn der Nationalsozialismus in Deutsch­land derart zerstörerisch eingebrochen ist, dass die “alte” Frauenbewegung zugrunde ging (und an erster Stelle die organisierte deutsch-jüdische Frauenbewegung), so sehe ich doch einen weiter zurück­reichenden Zusammenhang (vielleicht auch wegen meines Blicks für internationale Geschichte): nämlich dass wir in einer sehr viel älteren und groß­for­matigen Tradition stehen, der internationalen Frauenbewegung, die damals außer­halb des Nazi-Einzugsbereichs keineswegs zugrunde gegangen ist. Auf jeden Fall muss man sagen: Die 68er Bewegung hat nicht die Frauenbewegung erfunden (aber das meint wohl auch Cristina nicht). Man kann da vielleicht einen Anfang setzen, etwa bei den Tomaten, die 1968 gegen die SDS-Männer geflogen sind, aber das ist zwar pitto­resk, hat aber mit dem Leben der meisten, die dann Feministinnen wurden, wenig zu tun. Und meines Er­ach­tens wäre eine Frauenbewegung, deren Grundlage nur die 68er-Bewegung gewesen wäre oder gar nur das, was sie “übrig” gelassen hat, bald zu Ende gewesen. Denn je länger desto mehr basierte sie auf einer historischen Tradition, die für Deutschland allerdings erst wieder­entdeckt werden musste, und vor allem, von Anfang an, auf interna­tionalen Bezie­hungen.

Ob ich einen Alternativsatz prägen könnte, in dem das, was mir an Cristinas Diktum ein­leuch­tet, zum Ausdruck kommt? Also die pointierte Formulierung, der implizite, sich aber in “68” nicht erschöpfende Hinweis auf die vielen und auch älteren Bewegungen jener Zeit; denn es gab viele, und wir – oder jedenfalls Feministinnen – könnten durchaus sagen, dass die Frauen­bewe­gung von ihnen “die beste” war.

CR: Ich glaube, der Satz entstand im Zusammenhang damit, dass von den 68ern außer den dogmatischen Nachfolge-“Bewegungen” oder –Erstarrungen beispielsweise auch die Umweltbewegung kam oder die Friedensbewegung …

GB: Die Friedensbewegung ist allerdings schon älter, reicht mindestens in die 50er Jahre zurück, auch mit der Ostermarschbewegung, ganz zu schweigen von der Friedens­bewe­gung des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert.

CR: Aber die “68er” haben dabei einen weiteren personellen Grundstock gebildet, viele neue Peronen stießen dazu und gründeten neue Gruppen, auch in der Ostermarschbe­we­gung. Das sind natürlich verschiedene Generationen, und “68” bedeutet hier eine neue Generation, die neu startete …

GB: Daraus ergibt sich: Die Frauenbewegung muss auch im Kontext der zahlreichen ande­ren sozialen Bewegungen gesehen werden, innerhalb und außerhalb Deutschlands.

Differenzen und Hierarchien

CR: Und eine weitere Frage: Mir ist aufgefallen, dass dein Text über “Frauenbewegung und Frauenuniversität: Die politische Bedeutung der Sommeruniversität für Frauen”, der im “roten Buch” abgedruckt ist, sich von der Fassung unterscheidet, die Ilse Lenz unter dem Titel “Feministische Wissenschaft” in ihrer Quellensammlung über Die Neue Frauen­be­we­gung in Deutschland abgedruckt hat. Zum Beispiel ist der Text im “roten Buch” konkreter als der im Buch von Ilse Lenz, gibt genauere Zahlen. Und dieser kürzere Text stammt aus der Zeitschrift Courage.

GB: Ich hatte die Unterschiede zwischen beiden Texten schon fast vergessen, habe aber die verschiedenen Fassungen in meinem Kommentar zur Neuedition des ursprünglichen Textes genannt, der 1977 in dem „roten Buch“ erschienen ist und hier auf der Website steht (gleich in der ersten Anmerkung). Der Text hat inzwischen schon eine eigene Ge­schichte. Die Courage hat ihn auszugsweise in ihrer allerersten Nummer gebracht (1976), nach dem Abschluss der Sommeruni, über die sie im selben Heft berichtet (hier findet sich auch die Annahme von “600” Teilnehmerinnen – tatsächlich war die Ge­samtzahl etwa 1.500, wie Annemarie Tröger in einem Aufsatz von 1978 angibt). Mein Text ist in der Courage gegenüber dem Original, das in dem „roten Buch“ abgedruckt ist, stark gekürzt, was auch zu einer veränderten Schwer­punkt­setzung führte, und man setzte auch einen neuen Titel darüber: “Feministische Wissenschaft”. Ich erinnere mich (auch anhand meiner Unterlagen), dass ich für diesen Begriff damals nicht unbedingt viel Sympathie hatte, lieber war mir “women’s studies”. Der Text ist später noch zweimal  gekürzt, aber auf unter­schiedliche Weise gekürzt, wiederabgedruckt worden: 2006 unter dem Titel „Feministische Wissenschaftskritik“, der mir mehr zusagte (in: Feministische Politik & Wissenschaft, herausgegeben von Ingrid Kurz-Scherf u.a.) und 2008 von Ilse Lenz, die den Kurztext der Courage übernahm (in: Die Neue Frauenbewegung in Deutsch­land. Abschied vom kleinen Unterschied). Im übrigen habe ich das Thema auch in einem recht ausführlichen Text diskutiert, den ich kurz vor der Sommeruni der Dozentinnen­gruppe vorgelegt hatte; es war eine Art Vorstufe zu dem Text im „roten Buch“, und ich habe sie jetzt mit neuem Interesse gelesen: „Zur politischen Diskussion der Dozentinnengruppe: Gedanken und Notizen zum Konzept ‚feministische Wissenschaft’“.  Hier habe ich als ersten Schritt zu einem solchen Konzept postuliert: „Kritik der bestehenden Wissenschaft“ (und habe das für mein Fach Geschichte ansatzweise ausgeführt). Unter dem vielen, was uns damals bewegt hat, gab es hier auch Gedanken, die folgender Satz ausdrückt: „’Feministische Wissenschaft’ hat also nicht so sehr mit unserer Etablierung an diesen Universitäten zu tun, als mit unseren Kämpfen und unserer Macht (ein Frauen-go-in hat mehr von ‚feministischer Wissenschaft’ an sich als die Erringung eines Lehrstuhls für Frauenfragen).“ Der Satz wäre heutzutage nicht mehr denkbar. Das muss man wohl für einen Fortschritt halten – oder?

CR: Zwei Stichworte fallen mir an dem Text in der Courage auf. Wichtig fand ich Deine Überlegung, dass Bewegungen, wenn sie sich verbreitern, oft die Spitze abgebrochen wird. Aber vor allem interessiert mich der Begriff “Privilegien”. Du hast ihn mehrfach einge­bracht und gesagt, wir – als junge Akademikerinnen – “müssen die Gefahr neuer Privilegien ernst nehmen, allerdings nicht, wenn sie von denjenigen beschworen werden, die unsere Kämpfe blockieren wollen und von der gegenwärtigen Universitätsstruktur profitieren.” Also gegen Privilegien, und in der Einleitung zum Sommeruni-Buch schreibst du das noch deutlicher. Warst du denn 1976 davon überzeugt, dass wir schon damals zu den Privi­le­gier­ten gehörten – denn das schreibst du doch im Sommeruni-Buch in deiner Einleitung. Mir tritt der Begriff “Privilegien” immer wieder als Vorwurf der Männer-Bewegung gegen­über Frauen auf, und aus der intersektionalistische Ecke, wo es heißt: “wir weißen Frauen mit unseren Privilegien”. Ist das dieselbe Rede von “Privilegien” oder meinst du, wir waren damals (schon) privilegiert?

GB: Offen gestanden, glaube ich nicht, dass meine Texte von damals so gelesen werden können, zumal das Thema nur kurz vorkommt; in der Kurzfassung der Courage tritt es dementsprechend stärker hervor als von mir gewollt, und im ebenfalls gekürzten Nach­druck von 2006 gibt es keine solche Passage. Und dass wir damals “privilegiert” gewesen seien, ist in dem ursprünglichen Text nicht meine Stim­me, sondern ein fiktives Zitat. Immerhin habe ich in meiner Neuedition den von dir zitierten Satz mit folgendem Kom­men­tar in der Anmerkung versehen:  “Das traf nicht zu, denn viele der Organisatorinnen standen kurz vor Vertragsende und Erwerbslosigkeit, keine von ihnen hatte eine Professur. Die Formulierung zeigt aber, für wie ‘privilegiert‘ selbst die befristeten Mittelbaustellen gehalten werden konnten, im Vergleich zu den sonstigen Möglichkeiten für Frauen. Angesichts der Rede von ‘Privilegien‘ sollte aber auch eine besondere Spannung innerhalb der Frauenbewegung bedacht werden: zwischen einem basisdemokratisch-antihierarchisch-antiautoritären Habitus, der sich gegen „Etab­lierte“ richtete (nicht selten auch weibliche), und zugleich der Forderung nach Aufstiegsmöglichkeiten, wie sie Männer hatten (‚Karriere’).“ Dieser Widerspruch wurde meines Wissens nie gründlich reflektiert.

Ich will nochmal unterstreichen, dass damals – etwa 1974 bis mindestens 1981 – das, was ich zitiert habe, gang und gäbe war. Vermeintlich wohlbestallte „Mittelbäuerinnen“ (etwa wie ich) sind, auch wenn ihr Vertragsende bald bevorstand, heftig – und moralisierend! – angegriffen worden, und zwar von Feministinnen, die dabei durchaus aggressiv argumentieren oder gar hetzen konnten; ich habe das oft erlebt und erlitten, will aber darauf jetzt nicht eingehen, weil es doch ein Nebenschauplatz war. Immerhin darf daran erinnert werden, dass selbst eine Wissenschaftliche Mitarbeiter-Stelle viel bedeutete – wenn auch nicht gerade ein „Privileg“ –, wenn man vorher gar nichts hatte außer einem Stipendium. Und von unbefristeten Professorinnen war nicht einmal die Rede!

Gleichwohl möchte ich daran erinnern, dass es viele und oft hochgradige Unterschiede und Hierarchien zwischen den Frauen gab, bei deren Benennung – und bald wurden immer mehr und auch international die Unterschiede zwischen Frauen benannt – das Wort „Privilegien“ auftauchen konnte. In der Einleitung zum Sommeruni-Buch, die von Annemarie Tröger verfasst wurde, wird eine ganze Reihe von Gruppen genannt, die bei unserer Sommeruni „benachteiligt“ oder gar „diskriminiert“ worden seien, weil wir die Veranstaltung noch nicht gut genug organisiert hätten: Frauengruppen an diversen Fachbereichen; Angestellte, für die wir nicht imstande waren, einen Weiterbildungsurlaub zu besorgen; Mütter, für deren Kinder es nur unerfreuliche „Kinder-Parkplätze“ gab, die die „Mütterfeindlichkeit der Universität“ fortsetzten; Babies, deren Schreien in den Arbeitsgruppen auf Aggression stieß und deren Mütter daraufhin wütend wurden; und schließlich lesbische Frauen, die sich in den Vorträgen nicht berücksichtigt fühlten.

Am letzten Tag der Sommeruni wurde eine Resolution beschlossen (abgedruckt im „roten“ Buch), die auf einen bösartigen Artikel der Bild-Zeitung vom 9. Juli antwortete („Terror-Mäd­chen: Ausbruch, weil sie lesbisch sind?“) und zugleich die Solidarität mit dem Protest des Lesbischen Aktionszentrums bekundete; diese Resolution habe damals ich verfasst. Trotzdem weise ich die damalige Behauptung des LAZ zurück, „dass wir Lesben aus der vorbereitenden Organisation ausgeschlossen waren“ und dass „die Frauen der Dozentinnengruppe sich uns Lesben gegenüber so verhalten haben, wie sich Männer gewöhnlich gegenüber Frauen verhalten: sie haben uns schlicht und einfach ‚vergessen’!“ (S. 395f.) Das ist Unsinn, der dem Zeitgeist zugeschrieben werden kann oder muss, aber auch einer speziellen „basisdemokratischen“ oder Minderheiten-Rhetorik und einem Impuls, der jegliche Differenzen mit Privilegien oder Benachteiligung erklären will.

In diesem Kontext kann ich auch nicht die Meinung teilen, die das – ansonsten so eindrucks­volle – Buch von Cristina Perincioli prägt und einleitend so formuliert wird: nämlich „dass Lesben das Frauenzentrum Berlin und alle darauffolgenden Frauenprojekte initiierten, dass Lesben den eigentlichen Motor der autonomen Frauenbewegung bildeten.“ Das mag ja aus einer ganz persönlichen Perspektive so ausgesehen haben, aber lediglich aus einer – und andere persönliche Erinnerungen müssen daneben gleiche Gültigkeit behalten, ganz zu schweigen von einer historischen Analyse. Dessen ungeachtet stimme ich Perincioli darin zu, dass lesbische Frauen eine wich­tige Rolle in dieser Frauenbewegung gespielt haben (auch ohne dass man immer wusste, wer lesbisch ist oder sich so identifiziert oder organisiert – und auch das wandelte sich). Außerdem meine ich, dass die damalige Lesben­bewe­gung, die sich zugleich in lesbischen Organisationen und innerhalb der übergreifenden Frauenbewegung vollzog, von weitaus größerer Bedeutung war als die heute propagierten und selbsternannten (scheinbaren) Kollektivsubjekte LGBTQ oder LGBTTTQQIAA.

Gisela Bock und Ute Daniel. Bei diesem Treffen 1990 gründeten 30 Historikerinnen den Arbeitskreis Frauengeschichte.

5. Ausstrahlung und Wirkung

CR: Wie siehst du die Bedeutung der Sommeruniversität für die Frauenbewegung und die Universität sowie ihre Wirkungen?

GB: Die Bedeutung der Sommeruniversität für die Zeit danach, ihre Wirkung auf Univer­sität und Frauenbewegung, ihr Stellenwert in den 1970er Jahren – ich versuche, das aufgrund meiner Erinnerung zu umreißen. Zuerst einmal das Verhältnis der Mitglieder der Dozentinnengruppe zur Frauenbewegung. Die Trägerinnen der Sommeruni, ihre Organisa­torinnen, waren ein Dutzend Berlinerinnen, die in der Dokumentation unter “Kontakt­adressen” aufgeführt sind (zusammen mit einigen auswärtigen Vortragenden). Dabei feh­len einige Mitglieder, weil sie bei der Sommeruni keine dokumentierte Funktion hatten, es gab auch Austritte und Fluktuation, und auf einer – undatierten – Liste sind zwanzig Namen überliefert, von denen mehrere im weiteren Umkreis ebenfalls dazu gehörten. Wie viele oder welche Mitglie­der auch im Berliner Frauenzentrum tätig waren, dem Zentrum der autonomen Frauen­bewe­gung – diese Frage wäre nur durch Interviews zu beantworten, weil es kein Ver­zeichnis derjenigen gibt, die das Frauenzentrum besuchten oder gar dort aktiv waren, etwa in den Gruppen, die sich dort formierten; und einige autonome Gruppen gab es auch außerhalb des Frauenzentrums. Aber wie auch immer im Detail – die Mitglie­der der Dozentinnen­grup­pe rechneten sich zu der autonomen Frauenbewegung.

Außerhalb der Universität

Was die Wirkungen der Sommeruni betrifft (vor allem der beiden ersten, an denen ich selbst beteiligt war), sowohl auf die Frauenbewegung als auch auf die Universität, möchte ich drei Ausstrahlungen nennen. Die erste betrifft die außeruniversitäre Welt, die beiden anderen die universitäre Welt.

Nicht alle, welche die Sommeruni besuchten und auf welche diese wirkte, gehörten der Universität an, jedenfalls nicht mit Arbeitsplätzen, und erst recht nicht alle der akade­mi­schen Welt. Es gab also einige mit nichtakademischen Arbeitsplätzen, etwa Sekretärinnen oder Bibliothekarinnen. Es gab Volkshochschulbesucherinnen und Volks­hoch­schul­leh­rerinnen, und in der Tat waren damals die Volkshochschulen, von denen es in Berlin viele gab, ein wichtiger, wenn auch heute meist über­sehener Ort für Frauen und die Frauen­bewegung. Dort wurde viel über das Leben und die Emanzipation von Frauen ge­lehrt, diskutiert und auch geforscht. Von den Mitgliedern der Dozen­tinnengruppe unter­richteten etwa Ingrid Schmidt-Harzbach und Barbara Duden zeitweilig an Volks­hoch­schulen (Ingrid publizierte zu diesen „Frauengesprächskreisen“ 1980 einen Aufsatz, und acht Volkshoch­schulen mit ihren ein­schlägigen Kursen und Dozentinnen sind in der Dokumen­tation aufgeführt, in einer ein­drucksvollen Liste mit mehr oder weniger sämtlichen “frauen­spezi­fischen Lehrver­an­stal­tun­gen” an den [west-]Berliner Universitäten und Fachhochschulen 1972-1977, zusammengestellt von Hannah Beate Schöpp-Schilling). Es waren also auf der Sommeruni 1976 viele – beruflich gesehen – Nicht­aka­demikerinnen präsent, darunter natürlich auch Studentinnen als größte einzelne Gruppe, und in diese Richtung strahlte die Sommeruni mit Sicherheit aus. Heute allerdings, wo die Zahl und der Anteil weiblicher Studenten an den Universitäten drastisch zugenommen hat, spielen die Volkshochschulen nicht mehr dieselbe Rolle wie vor 40 Jahren.

Außerdem gab es damals in Berlin – ebenso wie in anderen Städten und auch in den Städten anderer Länder – zahlreiche, von Femini­stin­nen selbst geschaffene Orte der Sammlung und Aufbewahrung einschlägiger Dokumente und dementsprechend auch von Forschung, aus denen teils Archive, teils Zentren außeruniversi­tärer Forschung wurden. So gibt es – um nur einige der heute größten zu nennen – in Bologna seit Ende der 1970er Jahre das Centro di Documentazione, Ricerca e Iniziativa delle Donne, in London die Fawcett Library, die schon 1928 entstand und durch die neuere Frauenbewegung expandierte (2013 wurde sie in die London School of Economics aufgenommen) und in Paris die Bibliothèque Marguerite Durand (seit 1932); kaum ein europäisches Land gab es in den 1980er Jahren, in dem nicht solche außeruni­versi­tären Institute entstanden. In Berlin steht dafür das unter dem Impuls der Sommeruni 1978 gegründete FFBIZ (Feministisches Frauenbildungs- und Informations­zentrum), dessen Archiv zum Beispiel Unterlagen des Berliner Frauen­zent­rums und auch des Mitte der 70er Jahre gegründeten Lesbischen Akionszentrums enthält; ein weiteres damals entstandenes und bald expandierendes Lesbenarchiv ist “Spinn­bo­den”. Wer heutzutage zeitgeschichtliche Frauenforschung betreibt – darunter viele Studie­rende, die ihre uni­versitären Qualifikationsarbeiten anfertigen –, muss diese Archive und Biblio­theken, von denen es zum Beispiel auch in Kassel und Köln sehr wichtige gibt, unbedingt be­nutzen. Frauenforschung, wie sie mehr oder weniger präzise auf den Sommer­uni­versitäten konzipiert wurde, betraf also nicht nur die akademische Welt. Aber die akademische Welt, die nun eben zu der meinigen wurde, wurde durch die Aus­strah­lung der Sommer­univer­sitäten in zwei weitere Richtungen beeinflusst und geprägt.

Zentrale Institute an den Universitäten

Die eine Richtung führte innerhalb einer gegebenen Universität zur Einrichtung jeweils eines Zentrums, in dem die Aktivitäten der entstehenden und expandierenden Frauenfor­schung gebündelt und koordiniert werden sollten, und dieses Konzept brachte durchaus Spannungen, gar Konflikte mit den außeruniversitären Ansätzen. Solche Zentren waren disziplinär nicht festgelegt, waren also poten­tiell interdisziplinär. Ein Beispiel ist die Uni­versität Bielefeld (an der ich 1989-1997 zuhau­se war); dort hieß es “Interdisziplinäres Zentrum für Frauenforschung”, gegründet 1980-82 (2004 umbenannt zu “Inter­diszi­pli­näres Zentrum für Frauen- und Geschlech­ter­for­schung”, 2016 nur noch “Geschlech­ter­forschung”). Fast gleichzeitig entstand an der FU Berlin die “Zentrale Einrichtung zur För­derung von Frauenforschung” (später “Frauen- und Ge­schlech­ter­forschung”); 2015 wurde sie in Margherita-von-Brentano-Zentrum um­benannt. Margherita von Brentano war Philo­sophieprofessorin und hat in den 1960er und 70er Jahren mehrfach die Nicht-Präsenz von Frauen an den Universitäten scharf kritisiert (eine Frauenforscherin war sie nicht, aber sie gehörte als Intellektuelle zur Neuen Linken jener Zeit, als “die rote Margherita”). Das Ver­hältnis von wirklicher Inte­gra­tion verschiedener Disziplinen und der bloßen Zusammen­führung einzelner Disziplinen ist ge­mischt; im Vordergrund steht das Inter­esse, sich selber als Disziplin zu etablieren. Das gilt auch für andere Insti­tutionen dieser Art: etwa das “Zentrum für inter­disziplinäre Frauenforschung”, das Ende 1989 an der Hum­boldt-Uni­versität gegründet und später in “Zentrum für transdisziplinäre Geschlech­ter­studien” umbenannt wurde, und 1995 das “Zentrum für interdisziplinäre Frauen- und Ge­schlech­terforschung” an der TU Berlin. Im Zuge all dieser Um­benen­nungen, die sowohl für die Wissen­schaftsent­wicklung als auch für die Moden der letzten 40 Jahre charakteristisch sind, ebenso wie der geradezu inflationären Ersetzung des deut­schen Wortes “Geschlecht” durch ein ein­ge­deutschtes “Gender”, gerieten die Berliner Sommer­universitäten der Jahre 1976-1983 in Vergessenheit oder erscheinen wech­sel­wei­se als altmodisch oder als Mythos.

v.l.n.r.: Ulrike Büchner, Gisela Bock und Irmela von der Lühe bei einem Vortrag an der einstigen “Zentraleinrichtung zur För­derung von Frauenstudien und Frauenforschung” der Freien Universität Berlin, 1981 (Quelle: Zentraleinrichtung zur Förderung von Frauenstudien und Frauenforschung).


Frauenforschung innerhalb der Fächer

Die dritte Richtung ist der beträchtliche Vormarsch der Frauenforschung innerhalb der einzelnen Fächer, und in dieser Richtung habe ich mich an der Universität Bielefeld enga­giert, zusammen mit Juliane Jacobi. Dabei stand ich für die Förderung von Frauen und von Ge­schlech­ter­forschung im Fach Geschichte, und da dieses Fach schon seiner inneren Struktur nach weit­gehend interdisziplinär ist (durch die Koexistenz und Kooperation etwa von Wirtschafts-, Politik-, Sozial-, Kultur-, Medizin-, Rechts-, Ideengeschichte ebenso wie der historischen Epochen), war auch hier Interdisziplinarität gefragt. Jene Förderung war mein Interesse, ihre Not­wendigkeit war meine Überzeugung, und dem entsprach mein Engagement in der Serie der vorhin er­wähnten “Historikerinnentreffen”, die auch inter­na­tional ausstrahlten und von 1978 bis 1986 stattfanden. Ich habe nicht daran geglaubt, dass die zent­ralen In­sti­tute das Erforderliche schaffen würden und vor allem nicht daran, dass sie die Fächer oder Diszi­pli­nen im Sinn einer Geschlechterperspektive transformieren könnten oder wollten. Damit verbunden war (und ist) auch die Gefahr der Ghettobildung anstelle der Transformation der Fächer – je­den­falls wurden Pro und Contra und die respektive Effizienz der beiden Richtungen einst heftig diskutiert. Meines Erachtens muss künftig weiter expandieren, was in dieser Sache innerhalb der Fächer geschieht, als der Ort, wo die zukunftsträchtigen Auseinan­der­setzun­gen geführt werden und wo die Ge­schlechter­forschung in ihren nötigen Kontext gestellt wird. Es ist eine gänzlich andere Sache, wenn man fragt: wie hat sich die Frauen- und Ge­schlechter­forschung im Fach Ge­schichte entwickelt? und wenn die Frage heißt: wie haben sich die Zentralinstitute ent­wickelt? Es gibt da fast keine Über­schneidungen (man kann das gut mit einzelnen Fächern testen – keineswegs alle sind für die Zentralinstitute von Interesse). Auffällig ist auch, dass die zentralen Institutionen stark von Vertreterinnen des Fachs Soziologie dominiert wer­den. Und wenn es zum Beispiel um “Dekonstruktion” und “Anti-Essentialismus” geht, steht die Soziologie im Vordergrund – nicht selten auf Kosten empirisch konkreter und erst recht historischer Fragestellungen.

Meines Erachtens trifft es also keineswegs zu (wie man gelegentlich hört), dass die Som­mer­uni und ihre Wirkungen schnurstracks auf universitäre Zentralisation und zentrale Uni-Institutionen zuliefen – gerade das Gegenteil scheint mir zuzutreffen. Stattdessen richtete sich die Wirkung der Sommerunis, sogar in höherem Maße, auf die beiden anderen Dimensionen: die außer­uni­versitäre (wo die Frauenforschung auch angefangen hat) und die einzelnen Fächer (auch hier hat es viel früher angefangen), die nicht immer mit jener Form der Institutiona­li­sie­rung zu tun haben oder haben wollen. Alles zusammen­genom­men heißt das, dass die Som­mer­unis durchaus wirkmächtig waren, gestrahlt haben: manchmal mehr als Mythos, manchmal auch ganz konkret.

Ute Daniel


Gisela Bock und Ute Daniel bei der Gründung des Arbeitskreises für Historische Frauenforschung, 1990 (Quelle: FFBIZ: C Rep. 40 Acc. 200 Nr. 3071 BRD 19.8B 16B).

Geschlecht und das deutsche “Gender”

CR: Ich finde das sehr schön als Blick auf die ersten beiden Sommerunis, die sich von den folgenden deutlich unterscheiden; die späteren bezogen sich oft stärker auf sämtliche Gesellschaftsbereiche oder auf konkrete Politik usw.  Eine Nachfrage habe ich: Es haben ja nun die sog. Kulturwissenschaften auch die “gender studies” übernommen, der Begriff ist ja irgendwann neu eingeführt worden. Welche Berührungspunkte gibt es da mit der Geschichtswissenschaft, könnte man auch irgend etwas dagegen haben?

GB: “Gender” ist bekanntlich ein englischer Begriff, an sich ein sehr alter Begriff, und in den USA ist er um 1973/74 zur Bezeichnung der sozialen und kulturellen Geschlechterbe­zie­hungen aufgegriffen worden; die einflussreichsten Historikerinnen waren dabei Natalie Zemon Davis, Gerda Lerner und Joan Kelly. In meinen vorhin angedeuteten einschlägigen Ver­öffentli­chungen habe ich den Gebrauch des Begriffs, seine Bedeutung und seine Ent­wicklung dar­gelegt, gerade auch im Englischen (etwa in dem Eröffnungsheft der Zeit­schrift Gender & History von 1989). Und in den entsprechenden deutschen Aufsätzen (der erste ent­stand für das 3. Historikerinnentreffen 1981 in Bielefeld) habe ich außerdem den nöti­gen neuen Um­gang mit dem Begriff “Geschlecht” dargelegt. Da ich sowohl auf Deutsch wie auf Englisch schreibe, lege ich immer großen Wert auf die jeweilige Ver­wendung der beiden Begriffe, und mit dem “deutschen”, also eingedeutschten “Gender” (zeitweise noch “Gänder” ausgesprochen) kann ich mich nicht anfreunden, zumal es hierzulande seit über zwan­zig Jahren gera­de­zu inflationär und als Modewort verwendet wird. Ähnlich hat kürzlich auch die Historikerin Karin Hausen argumentiert: Der Begriff “Geschlecht” habe eine große Reich­weite und breite innere Differenzierung, man solle ihn nutzen und nicht zugunsten eines eingedeutschen „Gender“ ausblenden. Sogar Joan W. Scott, die seit 1986 sehr viel zur Insti­tu­tio­na­lisierung und Inflationierung des englischen “gender” beigetragen hat, hat das im Jahr 2000 bedauert und sich ge­wünscht, ein so reichhaltiges Wort wie das deutsche “Ge­schlecht” zu haben.

Der – in der Tat kulturwissenschaftliche – Begriff “gender studies” hat wiederum seine eigene Dynamik, und Gerda Lerner hat ihn in einem ihrer letzten Texte scharf von “gender history” ab­ge­setzt; die deutschen/eingedeutschten “Gender Studies” haben mit Frauen- und Ge­schlech­ter­geschichte oft wenig mehr zu tun. Mit besonderem Bedauern sehe ich die immer noch zunehmend inflationäre und institu­tionalisierte Ver­wendung des deutschen “Gender” (z.B. in Organisationen wie „Gender e.V.“). Trotz man­cher gegenteiliger Beschwö­rungen dient das deutsche „Gender“ immer mehr als (durchaus karrierefördernder) Ersatz für “Frauen” – ein Wort, das man kaum mehr aus­sprechen darf, ohne des “Essentia­lis­mus” gezichtigt zu werden (ein „Women’s History Month“, wie es ihn seit langem in den USA gibt, ist heutzutage und hierzulande undenkbar).

Frauengeschichte oder Frauen- und Geschlechtergeschichte gilt derzeit – jedenfalls im aka­demischen Bereich in Deutschland – als überholt, geradezu als rück­stän­dig gegenüber „Gender“, und diejenigen, die sich weiterhin für „women’s history“ interessieren, brauchen viel Standfestigkeit. Wir haben es hier offenbar mit einer Art Moderni­sierung zu tun, die weit entfernt ist von den kritisch-rebelli­schen Ansätzen der alten Sommerunis und erst recht von Feminismus, oder auch mit der Schaffung einer regelrechten neuen Disziplin.

CR: Ich sehe das ähnlich und teile diese “Gender”-Kritik. “Gender” ist ein Amöbenwort geworden, völlig gestaltlos. Das Problem liegt wohl auch in der Multiplizierung des massen­haften Angebots, zuweilen auch in gebetsmühlenartige Wiederholungen. Ich habe mich auch eine Zeitlang als Kulturwissenschaftlerin gesehen, bin aber davon abgekommen. Was ich mache und gemacht habe, ist eben Kunstgeschichte oder Klassische Archäologie, und nicht “Gender”.

GB: Mein skeptisches Urteil gegenüber jener Entwicklung kann und muss natürlich an den einzelnen Institutionen und deren Mitgliedern bzw. Produkten geprüft werden. Jeden­falls ist die „Gender“-Rhetorik allein noch kein Indikator und erst recht kein Garant für die Qua­li­tät der Forschung. Ich selbst halte mich jedenfalls lieber an meine drei vorhin genannten Vorbilder, deren in der deutschsprachigen „Gender“-Forschung leider kaum mehr gedacht wird.