Im Sommer 1971 wurde anlässlich der Berlinale Rosa von Praunheims Film im Forum des jungen Films gezeigt. Nach der Vorführung diskutierten eine Menge schwuler Männer vor dem Kino darüber, wie sie sich organisieren könnten. Cristina Perincioli fragte: Würden auch Frauen dort mitmachen können? Ja, wenn wir Frauen eine eigene Gruppe bildeten, wollten die Männer uns unterstützen. „Noch nie zuvor hatte ich in einer Männergruppe diese Art unvoreingenommener, brüderlicher Ermutigung und Zuwendung erfahren.“
Schlusslicht im Rotlichtmilieu
Wir hatten immer vermutet, dass der Besitzer des Sappho – ein Kerl, der in einem riesigen amerikanischen Cabriolet herumfuhr –, ein Zuhälter sein musste und dass die zellenartigen Fenster im Haus über dem Lokal, nicht zu einem Wohnhaus, sondern zu seinem Puff gehörten. Ins Sappho wurden auch Voyeure eingelassen, Männer, die Lesben für einen ‚flotten Dreier’ suchten. Wir, die kleine Lesbengemeinde, sahen uns als Nebenerwerbszweig für Zuhälter. Als wir später einen uns bekannten Voyeur aus dem Sappho vertreiben wollten, zeigten sich diese Strukturen: Innerhalb von Minuten war eine Truppe schlagkräftiger Männer im Lokal, die alle aufmüpfigen Lesben vor die Türe prügelten. Es war also höchste Zeit, uns aus dieser demütigenden Situation als Schlusslicht des Rotlichtmilieus zu befreien.
Aufstand in der Christopher Street
Den endgültigen Anstoß zur Selbstorganisation brachte der Besuch einer Lesbe aus New York. Sie erzählte uns vom Aufstand der Tunten am 28. Juni 1969 in einer New Yorker Homosexuellen Bar. „Als die Polizisten bei einer Razzia nichts Irreguläres finden konnten, begannen sie, Gäste und Wirt mit Schimpfwörtern zu bedenken: ‚faggot’, ‚fruits’.“ Diesmal nahmen die Schwulen das nicht mehr hin. „Sie versuchten, die Polizei und den Wirt einzusperren, und die umliegenden Häuser zu verbarrikadieren. Ein Aufstand, der drei Tage dauerte“ begann und wird bis heute jährlich weltweit mit der gefeiert.
Die Erkenntnis der Homosexuellen: Wir brauchen solche Lokale nicht, wir können selber eine Fabriketage mieten und ein paar Kästen Bier besorgen. Dieser praktische, einfache Gedanke leuchtete uns sofort ein.
Doch wie konnten wir andere Lesben informieren? Offen zu agitieren würde uns im Sappho Lokalverbot einbringen, deshalb druckten wir winzige Flugblätter, die so klein waren, dass man sie in der geschlossenen Hand verbergen und im Lokal unbemerkt weitergeben konnte. Auf dem Zettel stand ein einziger Satz sowie Ort und Zeit unseres nächsten Treffens. Daraufhin fanden sich acht Frauen in der S-Bahn-Quelle ein, später trafen wir uns im L’inconnue in der Goethestrasse 72-74, das – in Abwesenheit der Wirtin – von einem Kollektiv von Gästen verwaltet wurde.
Am 6. Februar 1972 veranstalteten die Schwulen eine Vorführung von Rosa von Praunheim’s Film in der Akademie der Künste. Von dieser Bühne aus riefen wir Frauen das erste Mal öffentlich zur Gründung einer Frauengruppe in der Homosexuellen Aktion Westberlin (HAW) auf. Waren wir bisher nur acht Frauen gewesen, kamen nun schnell mehr hinzu. Am 3. März 1972 bezogen wir mit den schwulen Männern der HAW unser neues Kommunikationszentrum – eine verrottete Fabriketage in einem Hinterhof in der Dennewitzstrasse 33 in Schöneberg. Inzwischen hatten sich bereits 100 Frauen in unsere Adressenliste eingetragen.
Erste autonome Selbstorganisation
Aus heutiger Sicht erscheint dieser Schritt zur Selbstorganisation als Selbstverständlichkeit, warum erfolgte er nicht früher, könnte man fragen, warum erst dann? Die HAW war eine der allerersten autonomen Selbstorganisationen in West-Berlin. Zwar gab es Schülergruppen, Betriebsgruppen, Stadtteilläden – alles keine Selbstorganisationen – mit Ausnahme der Kinderläden, sondern Initiativen von Studentinnen und Studenten, die von außen kamen und ein Betätigungsfeld suchten, ihre Erkenntnisse umzusetzen. Sobald die InitiatorInnen sich zurückzogen, lösten sich auch diese Gruppen wieder auf. Was nun mit der HAW und der HAW-Frauengruppe entstand, hatte eine neue Qualität. Außerdem war Mut nötig, um als ‚perverse’, verachtete Minderheit in die Öffentlichkeit zu treten. Und was viel Mut erfordert, bringt auch Veränderungen im Selbstbild der Handelnden mit sich. Deshalb sollen drei Frauen, die sich uns in dieser Zeit anschlossen, hier zu Wort kommen.
Eine „kleine perverse Minderheit“
Ilse Kokula lernte Köchin auf Wunsch ihres Vaters, der meinte, eine Frau, die Kochen kann, mache ihren Mann glücklich. Obwohl sie keine Lust auf diesen Beruf hatte, wurde sie bei der Abschlussprüfung Bayerns Beste. Dann holte sie die mittlere Reife nach, machte eine Sozialarbeiterinnenausbildung und arbeitete als solche. Ein Stipendium brachte sie in die USA. Als 28jährige ging sie nach Berlin, studierte an der Pädagogischen Hochschule (PH). In ihrer Diplomarbeit beschreibt sie die Entwicklung der Homosexuellenbewegung in Deutschland. Zehn Jahre später berief sie die Reichsuniversität Utrecht als Professorin. 1989 entstand der in der Berliner Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport, in dem Ilse Kockula leitend zuständig war für die Lesben.
Ilse Kockula:
In die HAW zu kommen war mein Coming Out. In München hatte ich schon versucht Homosexuelle kennenzulernen – es ist mir nicht gelungen. Ich wusste nicht, ob ich selbst homosexuell bin – verliebt war ich schon, einseitig – und ich hätte gerne mit jemandem darüber gesprochen, aber das sollte noch zehn Jahre dauern. Ich versuchte auch Bücher zu finden, das war aber vor 1970 sehr schwierig.
In Berlin war ich ein Jahr, da erzählte mir im Seminar eine befreundete Studentin von einer Freundin, die jetzt bei den lesbischen Frauen in der HAW sei. Das hab ich etwa sechs Wochen mit mir rumgetragen, bis ich sie fragte, ob sie mich mal mit dieser Freundin bekannt machen würde. Das war . Einen ganzen regenreichen Novembernachmittag lang ist Dorro mit mir in der Fuggerstrasse um den Block gelaufen. Dann musste sie in die HAW zum Putzen. Ich bin also mit, hab geputzt und die Frauen beobachtet, immer geguckt, wie sich Lesben bewegen.Das war noch in der Dennewitzstrasse im dritten Hinterhof – diese schreckliche Fabriketage. Im Treppenhaus ging die Beleuchtung nicht, es war immer ungemütlich und dunkel. Man musste zwei, drei Stunden früher kommen und heizen, dann war’s etwas wärmer. Dann saßen wir im Winter um diesen Bullerofen. Es gab immer Ärger wegen dem Dreck der Männer, mit denen wir damals noch die Etage abwechselnd nutzten. Wir mussten also immer putzen, weil wir ja die Frauen aus den Lokalen zu uns locken wollten, wir wollten es schön haben und nicht so versifft.
Wir saßen auf Matratzen und von einem Pleite gegangenen Kino gab’s noch einige Stuhlreihen an den Wänden. Im ersten Raum war ein Vorhang mit noch mehr Müll dahinter. Wir saßen am Boden und tranken aus Flaschen.[1]
Die größte Wirkung erreichte die Lesbengruppe mit dem Dokumentarfilm …und wir nehmen uns unser Recht, den Claus-Ferdinand Siegfried 1974 mit einige Frauen der HAW für den WDR realisierte, ein Film, der zur besten Sendezeit im Ersten Programm der ARD gezeigt und von allen Printmedien stark beachtet wurde.
Monne Kühn:
das war der Durchbruch! Wir bekamen Wäschekörbe voller Post – die wir beantworteten, indem wir von Berlin aus Gruppen in Westdeutschland initiierten: Wir fragten: ‚Bist du bereit Kontaktfrau zu sein?’ und dann haben wir die in der Nähe Wohnenden dieser Frau zugeordnet… so konnten diese sich in ihren Städten treffen. Diese Korrespondenz (damals ohne PC) fand in unserer Einzimmer-Wohnung statt, die Kisten voller Briefe unterm Bett. Eine ganz elementare Arbeit. Mit diesen neuen Gruppen in Westdeutschland waren wir dann auch im steten Kontakt und bei jedem Pfingstreffen kamen mehr.
Ob mit oder ohne Theorie – mit ihrer Organisationsarbeit: der Initiierung all dieser Lesben-Gruppen und der jährlichen Pfingsttreffen ermöglichten die Berliner Lesben den Tausenden verstörten und unterdrückten Frauen in Westdeutschland herauszukommen aus ihren Nischen, die Gemeinsamkeit zu feiern, sich zu stärken, Selbstbewusstsein zu tanken.[2]
Ein paar Tage normal sein
Wie weit unsere selbstorganisierte Lesbengruppe ausstrahlte, zeigt ein Brief aus der Schweiz. Nach zehn Jahren Schweigen meldete sich jene Freundin wieder, bei deren Hochzeit ich Brautjungfer gespielt hatte. Sie schrieb:
Ich möchte nach Berlin […] mich wohlfühlen unter meinesgleichen, nicht mehr schwul sein, sondern unter Euch normal sein, nicht mehr erklären müssen, warum ich nicht normal bin, nicht mehr tiefenpsychologisch ergründen wollen, warum ich lesbisch bin, einfach bei Euch sein, ein paar Tage und sehen und hören: dass es viele Mädchen und Frauen gibt, die andersrum sind, ein paar Tage
normal sein und die Gesellschaft auslachen und den Spieß einmal umdrehen, mich stark fühlen und glücklich, eine lesbische Frau zu sein, Kraft, Mut schöpfen in einer großen Stadt, in einer großen Gruppe, ich möchte nach Berlin, schneller, als es geht, schreib mir, wie es gehen könnte …[3]
[1] Für diesem Beitrag hat Cristina Perincioli Auszüge aus ihrem Buch „Berlin wird feministisch“, Berlin 2015, S.63 ff. selbst überarbeitet.
[2] ebenda S.69
[3] ebenda S.78