Dieses Traktat hat alle Frauengruppen bundesweit beschäftigt!
Die kleine Kampfschrift Mythos vom vaginalen Orgasmus[1], die um 1969 aus den USA Berlin erreichte und hektographiert oder raubgedruckt zirkulierte, stand ebenfalls im Gegensatz zur Funktion des Orgasmus[2] von Wilhelm Reich. Im Rahmen meiner Interviews mit Zeitzeuginnen, fragte ich 1997 einige, ob sie sich jetzt nach dreißig Jahren an diese Schrift erinnerten: „Haben wir alle gelesen, das war ganz neu!”, so Elsa Rassbach und Roswitha Burgard betont: „Das war umwälzend: der Mann ist überflüssig – eine solche Befreiung!”. Ulla Naumann weiß zu erzählen:
Das hab ich geraubdruckt und verteilt wie Hölle. Hab’s dann in den Kasten bei der Buchhandlung von Karin Röhrbein gesteckt zum Weitergeben. Das war damals so ein Sport: Was uns gefiel, haben wir abgezogen und weiterverbreitet.
Ich fand Ullas Raubdruck in eben jener Buchhandlung und mir blieb erst einmal die Luft weg! Die Autorin, Anne Koedt, behauptet der Orgasmus finde nicht in der Vagina statt, denn diese verfüge über zu wenig Nerven, als dass sie überhaupt etwas empfinden könnte. Nerven sind dagegen vor allem in den inneren Schamlippen und der Klitoris konzentriert. Ein Orgasmus kann also nur durch eine Stimulation dieser Bereiche ausgelöst werden. Demnach ist das ‚Primat des Vaginalorgasmus’ von Freud und Reich gegen die Bedürfnisse der Frauen gerichtet und widerspricht biologischen Tatsachen.
Auch für mich war das eine Befreiung, hatte ich doch geglaubt, dass mir als Lesbe beim Sex mit Frauen das Wichtigste entgehe. Ich fragte eine heterosexuelle Freundin und die gestand mir, dass sie sich, wenn ihr Freund mit ihr schläft, schließlich doch von eigener Hand zum Orgasmus bringen muss. So war das also! Nun ja, vielleicht doch nicht ganz; Elsa Rassbach schränkt 1997 ein:
Diese Theorie stimmt gar nicht – mindestens für mich nicht –, aber die Idee, dass wir Forderungen stellen können, dass wir als Frauen ein Recht auf Befriedigung haben – das war ganz neu.
Monika Schmid:
[Die] Sexualitätsgruppe im Frauenzentrum war wie eine Selbsterfahrungsgruppe. An eine Sitzung erinnere ich mich, an diesem Abend erzählte jede Frau, wie sie onaniert. Nun, ich onanierte überhaupt nicht, aber das wagte ich nicht zu sagen. Wir übersetzte den amerikanischen Text ‚Der Mythos vom vaginalen Orgasmus[1]’. Für mich stimmte die These zwar nicht, aber ich erfuhr, dass es eine Klitoris gibt – das war mir neu.
Cristina Perincioli:
Für mich war dieses Papier 1970 eine Offenbarung; ich war damals eine kleine Lesbe, die mit dem Gefühl lebte, nur eine halbe Frau zu sein und nicht ganz richtig, also nach Sigmund Freud noch nicht ‚erwachsen’. Das Papier nun zeigte, dass frau bei einer Penetration in der Vagina gar nichts spüren kann, weil es in der Vagina nämlich kaum Nerven gibt. ‚Also, hört auf, euch damit abzumühen, die Clitoris ist das Wichtige!’
Mir gab das unheimlich Auftrieb, diese Erkenntnis, dass ein Mann gar nicht fehlt, denn das Wichtigste spielt sich ja sowieso woanders ab.
Beatrice Stammer ergänzt:
Dieser Text erklärte mein Unvermögen zum vaginalen Orgasmus. Das war eine unheimliche Erleuchtung. Für mich stimmte es; in meinem ganzen Leben habe ich nie einen vaginalen Orgasmus bekommen. Und ich bin froh, dass in unserer Generation das ermöglicht wurde, den klitoralen Orgasmus endlich auch als eine ‚erwachsene Sexualität’ zu akzeptieren. Es gab viele Diskussionen mit anderen Frauen, die den vaginalen Orgasmus hatten und verteidigten, die mussten uns erklären, wie das technisch möglich war.
1974 machten wir mit den ‚Falken[3]’ eine Fahrt. Natürlich hatten wir auch ein Frauenzelt, dort lasen wir zusammen den ‚Mythos vom Vaginalen Orgasmus’ und haben dort dann zu zwanzig Frauen zusammen onaniert. Das war eine tolle Erfahrung. So wendeten wir dieses angebliche Defizit für uns positiv. Das andere Buch, was wir lasen war Eltern, Kind, Neurose von Eberhard Richter – worin der psychische Irrsinn der Kleinfamilie untersucht wurde. Dann kamen die Spekula. Ich hab viel Selbstuntersuchung gemacht.
Nachtrag 2023
Die Geschlechterforscherin Louisa Lorenz beschreibt die wechselnde Rolle weiblicher Lust in Laufe von Jahrhunderten im Interview [4]: Viele wissen nicht, dass die Klitoris als Organ im Inneren des Körpers noch weiter geht. Wie Schenkel umschliessen ihre Schwellkörper den Eingang zur Vagina.
Selbst medizinische Lehrbücher geben diese Anatomie falsch wieder, zeichnen allein die Klitorisperle – das war nicht immer so! Schon seit dem 17.Jahrhuntert kannte man die komplette Anatomie der Klitoris.
Weibliche Lust hielt man für entscheidend für eine Empfängnis, nur mit einem Orgasmus konnte das klappen – glaubte man früher. Erst im 19.Jahrhundert ändert sich das: Die Psychoanalyse postulierte, dass eine Frau erst dann normal entwickelt sei, wenn sie allein durch die Stimulation der Vagina zum Orgasmus komme.
[1] Koedt, Anne, The Myth of the Vaginal Orgasm, New York, 1968,
Koedt beruft sich darin auf die Erkenntnisse von Masters and Johnson’s Human Sexual Response von 1966.
[2] Reich, Wilhelm, Die Funktion des Orgasmus. Die Entdeckung des Orgons, Ende der 60er als Raubdruck.
[3] Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken
[4] DER SPIEGEL Nr 34 / 19.8.2023