L 74

Eine Gruppe älterer Lesben zog sich 1974 in die Gruppe L74 zurück mit dem Wunsch nach „Aufhebung der Isolation, Gemeinschaft mit gleichaltrigen Lesben (außerhalb des Sub, d. h. Rotlicht-Bars für Lesbierinnen), Suche nach Freundinnen, Klärung der eigenen Identität und Hilfe bei Auseinandersetzungen mit der Gesellschaft.“[11] Die Gruppe gab „Unsere kleine Zeitung“ UkZ von 1975 bis 2001 heraus. Bekannte Mitglieder der Gruppe L74 waren Kitty Kuse – die Gründerin, Hilde Radusch und Ilse Kokula.

In der Sammlung “Die neue Frauenbewegung in Deutschland”, herausgegeben von Ilse Lenz, findet sich ein Selbstverständnis der Gruppe L 74, welches in Courage 1978 abgedruckt wurde:

 

L wie Lesbos

Was ist das, „Gruppe L 74“? Manche verwechseln uns mit einer bekannten Literaturzeitschrift, andere glauben, es mit einem Klüngel exotischer Künstlerinnen zu tun zu haben.

Keines von beidem stimmt — wir sind eine Gruppe homosexueller Frauen („L“ steht für „Lesbos“ und „74“ für das Gründungsjahr). Offiziell nennen wir uns „eine Gruppe älterer, berufstätiger Lesbierinnen“.

Das klingt komisch, hat aber eine Vorgeschichte. Das jetzige „Lesbische Aktionszentrum Berlin“ (LAZ vormals HAW), das seit 1972 existiert, sprach vorwiegend jüngere Frauen an, meist Studentinnen und Akademikerinnen. Ältere Frauen konnten mit deren Sprache und den teilweise radikal geäußerten Theorien und Utopien nicht viel anfangen. Zudem fühlten sie sich in der teilweise hektischen Atmosphäre zwischen Matratzen und leeren Bierflaschen nicht wohl.

So entstanden bereits 1974 die ersten Versuche, in Anlehnung an das LAZ eine eigenständige Gruppe älterer lesbischer Frauen zu gründen. Wir haben mehr als 30 feste Mitglieder zwischen 25 und 80; der größte Teil ist im Sozialbereich tätig, z.B. als Krankenschwester oder Altenpflegerin. Unser Gruppenleben regeln wir, indem jede Frau für etwas verantwortlich ist: Für die Unterhaltung unseres Zentrums, für das Schreiben, Drucken und Versenden der UkZ, für die Postbeantwortung. Die Tatsache, daß wir weniger in Theorien bewandert sind und dafür besser praktische Dinge unternehmen und organisieren können (z.B. Fahrten zum „Lesbennest“ in Hamburg, in den Harz usw.) liegt wohl daran, daß Frauen mit langjähriger beruflicher Erfahrung bei uns sind. Das unterscheidet die Gruppe L 74 von den üblichen sozialen Schichtungen innerhalb der Frauenbewegung. Der Nachteil: nicht zur Avantgarde zu gehören;

Warum liegt uns so viel an Gruppengründungen? In einem Rundgespräch stellten wir uns neulich diese Frage. Überraschend häufig wurde die Gruppe als „Familienersatz“, als „Heimat“ bezeichnet. Homosexuelle Frauen, in der Regel unverheiratet und daher ohne familiären Anhang, sind zeitlebens stärker als andere der Isoliertheit ausgesetzt gewesen. Viele von uns mußten unsere ersten Frauenbeziehungen in plüschigen Homo-Lokalen anknüpfen, weil sich im Alltag keine Frau als lesbisch zu erkennen gab und weil keine Gruppen existierten, in denen man sich unverkrampft begegnen und kennenlernen konnte. Wir erinnern uns noch genau der Zeiten, als unsere Angst vor dem Alleinsein den Zwang mit sich brachte, eine gescheiterte Beziehung gewaltsam aufrechtzuerhalten.

Und wir erinnern uns schließlich der Zeiten, als die Verteufelung unserer Sexualität uns einzeln und ohne Rückendeckung traf. Wir mußten uns zudem ewig anhören, daß unsere Liebe zu Frauen eine Krankheit und eine Perversion sei. Viele Frauen hielten diesen Druck nicht aus. Sie wurden schizophren, paranoid und krankheitsanfällig. Viele glaubten schließlich, was man ihnen einzureden versuchte: daß ihre „Veranlagung“ daran schuld sei. Die Folge: Selbstverachtung, Verleugnung, übersteigerte Angst vor „Entdeckung“.

Deshalb hat die Gruppe für uns eine Doppelfunktion. Einerseits bietet sie uns Schutz. Wir können uns unsere Erfahrungen im beruflichen und familiären Bereich mitteilen, uns stützen und gegenseitig beraten. Zudem ist eine Frau, deren Beziehung gescheitert ist, niemals allein. Sie kann sich Hilfe von anderen Mitgliedern holen, um besonders über die schlimme erste Zeit hinwegzukommen. Deshalb richteten wir kürzlich einen Nachmittag ein, an dem wir bei Kaffee und Spielen uns zwanglos näher kennenlernen wollen.

Verbündete bei den Frauen

Die andere Aufgabe der Gruppe liegt in der Arbeit nach außen. Wir wollen die Vorteile der Gruppe nicht für uns behalten, sondern sie nach außen tragen. Das bedeutet, daß wir uns der gesellschaftlichen Achtung unserer Partnerwahl voll bewußt sind und sie bekämpfen müssen. Deshalb ist es für uns so wichtig, in der Frauenbewegung eingebettet zu sein. Denn obwohl es auch homosexuelle Männer gibt, ist ihre Unterdrückung eine spezifisch andere als die unsrige. Wir entdecken zunehmend, daß wir Verbündete in erster Linie nur unter Frauen suchen müssen. Das ist nicht immer einfach, da in Frauenzentren beispielsweise häufig latente Aggressionen gegen Lesbierinnen aufkommen. Es gibt aber keinen anderen Weg. Sigrid Schäfer12 wies jüngst in einer Untersuchung nach, daß die Tatsache, eine Frau zu sein, das Sexualverhalten von Lesbierinnen weit mehr beeinflußt als die Tatsache, eine homosexuelle Partnerwahl getroffen zu haben (In „Psychologie heute“, Juli 1977). Wir glauben, nein, wir wissen es, daß das gesamte übrige Verhalten sich an der herkömmlichen weiblichen Rolle orientiert. Im beruflichen und privaten Bereich werden wir als Frauen behandelt und eingeschätzt. Mit anderen Worten: der homosexuelle Mann ist uns fremder als die heterosexuelle Frau.

In unserem Bestreben, die Lage der homosexuellen Frau zu verändern, gründeten wir die Zeitung „UkZ“ — „Unsere kleine Zeitung“. Sie erscheint seit 1975 regelmäßig und hat ihre Auflage von 200 auf 1.300 steigern können. Eine stolze Zahl, bedenkt man, daß die größte lesbische Zeitschrift der USA es auch nur auf 6.000 Exemplare bringt.

Zuerst glaubten wir, daß wir die „UkZ“ nicht würden füllen können. Jetzt quillt sie – trotz Seitenerhöhung und Schriftverkleinerung — jeden Monat über. Als besonders erfreulich empfinden wir die Mitarbeit der Leserinnen. Sie schicken uns Gedichte, Geschichten und Selbsterfahrungsberichte. Besonders die Berichte aus Kleinstädten führen uns immer wieder vor Augen, wie desolat die Lage dort ist. Frauen schreiben uns von Verfolgungen, von Ängsten und Alltagsfrustrationen („sie riefen mir nach: lesbisches Schwein“) (Vorschlag für eine Antwort: „Das Schwein sollten Sie sich noch einmal überlegen!“) und wir versuchen, jedes Schreiben zu beantworten. Diese Erfahrungen sind für alle Beteiligten überaus wichtig: wir lernen daran, daß unsere Probleme einen gemeinsamen gesellschaftlichen Kern haben, der in der Nichtanerkennung der Homosexualität als einer gleichwertigen Lebensweise liegt.[1]

 

[1] Courage 1978, 1,S.50-51 in Lenz, Ilse: Die neue Frauenbewegung in Deutschland, 2008, S.240.